Texte

Joachim Friebe

Herrgott ist ein falscher Name

Warum es wichtig ist, den verdrängten biblischen Gottesnamen endlich wiederzuentdecken.
 

Der HERR, der um die fünftausend Mal als Name Gottes durch fast alle Übersetzungen der Bibel geistert ist eine Fassade, eine unpassende, ja irreführende noch dazu. Der HERR wird in der Lutherübersetzung und neuerdings auch in der »Gute Nachricht Bibel« durch Großbuchstaben besonders hervorgehoben.

Die Fassade wurde in vermeintlich guter Absicht errichtet und mit Absicht bis auf den heutigen Tag gepflegt. Aber: »Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln« ist falsch übersetzt. »Der HERR segne dich und behüte dich« führt in die Irre. »Ich bin der HERR, dein Gott« scheint vorsätzlich verkehrt übersetzt zu sein. »Lobe den HERRN, meine Seele« – »Der Name des HERRN sei gepriesen«, solche Namensgebung ist eine in Kauf genommene sinnwidrige Übertragung des hebräischen Bibeltextes. Man könnte mit mehreren tausend Beispielen fortfahren. Im Englischen heißt dieselbe Fassade »Lord«, im Französischen »Seigneur«, im Russischen »Gospod« ...

Seit zwei Jahrtausenden hat man in den christlichen Kirchen Gott in dieser Weise eine Maske übergestülpt, unverdrossen, immer neu, und in bester Absicht. Die Übersetzer der Bibel (es waren bislang nur Männer) meinen bis zum heutigen Tag, diesen alten Brauch zu übernehmen sei wichtiger als die getreue Wiedergabe des hebräischen Textes.

Weshalb diese provozierende Kritik? Der Name Gottes ist alles andere als nebensächlich. Der Name sagt etwas vom Wesen dessen aus, der ihn trägt. Im Orient hat der Name ein großes Gewicht, zu biblischen Zeiten noch mehr als heute. Es gibt im alten Testament eine wunderbare Erzählung, in der Gott selbst zu Moses sagt, wer er sei: »Ich bin: Ich–bin-da. « Die Israeliten flehten seit der ägyptischen Gefangenschaft Gott unter dem Namen Jahweh um Hilfe an. Gottes Name bedeutet ICH BIN DA. In der biblischen Erzählung vom brennenden Dombusch - sie steht im Buch Exodus, 3. Kapitel - hört Moses, wie die Stimme Gottes ihn aus den Flammen heraus anspricht. Gott habe das Elend seines in Ägypten geknechteten Volkes gesehen und sei »herabgestiegen«, um es zum Aufbruch in die Freiheit zu rufen und durch Meer und Wüste zu führen in ein »gutes und weites Land, in dem Milch und Honig fließen«. Moses solle von dem ägyptischen Herrscher, dem Pharao, die Freigabe seiner Landsleute verlangen. Angesichts dieser tollkühnen Mission überfiel Moses Todesangst. Er wusste, dass er Gott nicht widersprechen darf. Aber er musste wenigstens vorher wissen, was für ein Geheimnis in dem Namen Gottes verborgen ist. Denn in diesem Namen sollte er dem mächtigen Pharao seine Forderung überbringen.

Die Israeliten nannten Gott - so hatten sie es von den Vorfahren gelernt - Jahweh. (Selten gab des daneben noch den Namen »Elohim«, den alle semitischen Völker so oder ähnlich gebrauchten.) Der Sinn des Gottesnamens Jahweh war den Israeliten aber bald nicht mehr deutlich. Der Sinn von Namen entzieht sich oft der allgemeinen Sprachentwicklung, irgendwann wissen die Leute oft nicht mehr, was Namen bedeuten. Moses' Reaktion in der Erzählung lässt vermuten, dass es den Israeliten mit dem altüberlieferten Namen Jahweh so ergangen war. Vorsichtig tastet Moses sich an das heran, was ihn bewegt. Er sagt zu der Stimme aus dem Feuer: »Und wenn mich die Israeliten fragen: -Was bedeutet sein Name?-, was soll ich ihnen dann antworten?«

»Atemberaubend« nannte der Philosoph Ernst Bloch diese Frage. Der Mensch bittet Gott zu erklären, was sein Name bedeutet - was sein Wesen sei! Es ist kein Philosoph, der diese Bitte äußert, sondern ein Mensch, der sich angesichts seiner Berufung schwach und ängstlich fühlt. Ihm und seinesgleichen gilt die Antwort, die er hört. Sie enthält, was Gott seinen Menschen gegenüber wesentlich und entscheidend findet. Die Stimme aus dem Feuer antwortet dem Moses: »Ich bin Ich-bin-da. Sag den Israeliten: Ich-bin-da hat mich zu euch gesandt.«

Jahweh soll also grundsätzlich verstanden werden als Ich-bin-da. In der hebräischen Sprache konnte man zur Entstehungszeit der Bibeltexte nach dem Urteil der Sprachwissenschaftler das Ich-bin-da aus »Jahweh« heraushören. Wie die Worte damals genau geklungen haben, lässt sich nicht mehr eindeutig klären, da man immer nur Konsonanten auf die Schriftrollen malte, keine Vokale. Für den Gottesnamen waren das die Konsonanten JHWH. Das zu Grunde liegende hebräische Wort trägt - eine wichtige Eigenheit dieser Sprache - nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft in sich: Aus »Ich bin da« darf man zugleich auch die Zusicherung heraushören: »Und ich werde da sein.«
 

Unser Sprachempfinden wehrt sich zu nächst dagegen, ein Tätigkeitswort, dazu noch eines in der Ich-Form, als Namen zu verwenden. Doch wenn Gott sich selbst mit einem Namen für uns kennzeichnet, gilt nicht das menschliche Kriterium, wonach der Name unserer Sprachgewohnheit entsprechen muss. Der Name Gottes Ich-bin-da kann sich nicht mühelos unserm Sprachempfinden anpassen. Nehmen wir aber zur Kenntnis: Der Bibel zufolge will Gott Ich-bin-da genannt werden. Die Dornbusch-Erzählung schließt mit der Weisung Gottes: »Dies ist mein Name für alle Zeit. So sollt ihr mich nennen von Geschlecht zu Geschlecht.«

Ich-bin-da. Dieser Name bündelt wie in einem Brennpunkt, um mit Martin Buber zu sprechen, die gesamte Botschaft der Bibel. Er bringt auf den Punkt, in welcher Beziehung Gott und seine Menschen zueinander stehen. Freilich darf man die Geschichte nicht übersehen, die zu diesem Namen gehört, denn, isoliert betrachtet, könnte Ich-bin-da ziemlich vage klingen. Im Zusammenhang mit seiner biblischen Rahmengeschichte lässt sich verdeutlichen, was dieser Name sagen will:

Ich, euer Gott, will, dass ihr den Aufbruch heraus aus eurer Knechtschaft wagt. Ich werde bewirken, dass möglich wird, was euch unmöglich scheint, denn ich bin Ich-bin-da. Ich will, dass ihr den Weg antretet in das Land des Glücks, das ich euch zugedacht habe. Ich werde euch in allen Gefahrenbeistehen und euch führen. Darauf sollt ihr euch verlassen, weil ich dabei immer bei euch bin.
 

Hinter diesem Namen steht das biblische Bild eines Gottes, der seine Menschen in die Freiheit aus der Knechtschaft ruft und sie führen will in das Land des Shalom, des umfassenden Glücks. Dies ist ein einzigartiges Gottesbild unter allen Religionen dieser Erde. Dieser Name fasst die tiefsten Einsichten zusammen, zu denen Israels Glaube im Lauf seiner langen Geschichte vorgedrungen ist. Der krönende Schlusssatz des Matthäus-Evangeliums spielt deutlich auf den Gottesnamen an und bezeugt dadurch, dass die ersten Jüngerinnen und Jünger in Jesus Christus die Verkörperung dieses Gottes Ich-bin-da erkannten: »Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt« (Matthäusevangelium 28, 20).

Der Name Ich-bin-da sollte nach der biblischen Darstellung tatsächlich die ständige, allseits gebräuchliche Gottesbezeichnung werden. Doch warum hat sich der Name mit diesem hohen Sinngehalt bei uns nicht ein gebürgert? Warum verwenden wir ihn nicht? Weshalb wurde der biblische Gottesname in den Bibeltexten bewusst gelöscht und durch den Titel Herr ersetzt ?

Die Ursachen sind komplex: Schon ab dem 3. Jahrhundert vor Christus hatten jüdische Leser des »Alten Testaments« den Gottesnamen Jahweh aus frommer Scheu im Stillen mit »Adonai« umschrieben. Und dieses Wort bedeutet im Hebräischen »Herr«. Das heißt: »Jahweh« steht im Text, aber jeder kundige Jude liest und spricht dafür automatisch das Wort »Adonai«. Dieses galt nicht als Übersetzung; es war stets nur eine Umschreibung des hochheiligen Gottesnamens selbst. Als dann sehr bald schon jüdische Gelehrte das »Alte Testament«, eben die hebräische Bibel, für Juden im griechischsprachigen Ausland übersetzten, hatten sie den Gottesnamen JHWH einfach in seiner hebräischen Schriftform in den griechischen Text hinein übernommen, denn auch im Ausland wusste jeder Jude, wie er ihn verstehen sollte. So weit, so gut.

Dann kam die Zeit, in der auch christliche Gemeinden die griechischen Texte der hebräischen Bibel (Altes Testament) brauchten. Viele von ihnen waren Heiden und hätten mit den vier Buchstaben des hebräisch geschriebenen Gottesnamens nichts anfangen können. Christliche Gelehrte, die für Heiden und nicht israelischen Christen immer neue Exemplare der griechischen Bibelfassung erstellten und verbreiteten, haben für JHWH dann gleich »Herr« hingeschrieben. Vermutlich wollten oder konnten sie nicht, wie es richtig gewesen wäre, das griechische Wort für Ich-bin-da einsetzen. Vielleicht hatten sie keine Antenne für das geschichtliche, prozessorientierte Bild eines Gottes, der als Ich-bin-da unter seinen Menschen lebt und mit ihnen auf dem Weg ist in ein zukünftiges »Gelobtes Land«. Das griechische Weltbild war eher statisch, fest und für immer geordnet. Ein Gott, der seine Menschen zum Widerstand aufruft gegen die Pharaonen dieser Welt, ein Gott, der will, dass Menschen den Aufbruch wagen, der ihnen ganz nahe ist, der sie in eine gute Zukunft führt - ein ungewohnter Gedanke! Musste Gott nicht der sein, der Menschen, Welt und Kosmos aus unerreichbarer Ferne regiert der alles ordnet, beobachtet und kontrolliert ewig und völlig souverän?

Aus welchen Motiven heraus auch immer - die christlichen Gelehrten ließen JHWH weg und setzten dafür eine Bezeichnung ein, mit der Gott aus ihrer Sicht besser gedient war. Wo JHWH gestanden hatte, hieß es von nun an »ho Kyrios«, zu deutsch »der Herr«. Das war nicht nur ein paar Mal der Fall, auch nicht hundert Mal. Denn die ganze hebräische Bibel ist ja voll vom Namen Gottes: Etwa fünftausend Mal wird Gott Jahweh genannt. Etwa fünftausend Mal wurde daraus Kyrios, »der Herr«. Und wie selbstverständlich nahm später Bischof Hieronymus den Kyrios als Dominus hinüber in die lateinische Übersetzung der Bibel. Damit waren die Weichen gestellt. Der Herr hatte Ich-bin-da verdrängt. Ein verhängnisvoller Rückschritt. Wenn auch die biblischen Texte Gott immer wieder »Herr« nannten, brachten sie damit nichts anderes als die simple Erkenntnis zum Ausdruck, dass Gott höchste Autorität besitze und Menschen ihm gehorchen müssten. So dachten von ihren Göttern auch alle heidnischen Religionen. Insofern war der Titel »Herr« keine Neuigkeit.

Die genuin biblische Botschaft aber fängt an diesem Punkt erst an. Sie verkündet dass Gott seine Herrschaft gerade nicht ausübe, wie man es von menschlichen Herren gewohnt ist, gerade nicht willkürlich, allein bestimmend, unabhängig, von oben herab, absolute Unterwerfung fordernd. Vielmehr liebt Gott seine Menschen wie ein Bräutigam seine Braut. Gott erwartet, ja braucht geradezu ihr Vertrauen, ersehnt ihre Gegenliebe, wirbt um ihre Herzen, weist ihnen hohe Würde und Mitverantwortung zu in der Gestaltung der Welt. Gott ist herabgestiegen, um seinen Menschen ganz nahe zu sein, um sie aus der Knechtschaft in die Freiheit zu rufen und um ihnen selbst voranzugehen auf dem langen und mühsamen Weg in das »gute und weite Land«. Das ist die biblische Darstellung Gottes, und das ist es, was der Gottesname Ich-bin-da sagen will. In diesem Verständnis prägt dieser Name Gottes die Bibel, tausendfach leuchtet er auf in ihren Texten.

Und tausendfach wurde er wieder ausgelöscht. Tausendfach stellte man das überholte und letztlich ungeeignete Gottesbild Herr wie ein unumstößliches Monument an die Stelle des wahren Gottesnamens.
 

Es waren nicht die kleinen und ungebildeten Leute, die das taten, die sich die Gottesidee von einem majestätischen, absoluten Gehorsam fordernden Herrn nicht nehmen lassen wollten und somit dem biblischen Text nachträglich tausendfach aufnötigten. Das waren die christlichen Schriftgelehrten und kirchlichen Hierarchen. Wie kam es, dass sie (bewusst oder unbewusst) kein Interesse aufbrachten für den wahren Gottesnamen und damit für das ganz andere Gottesbild, das nicht zu ihm gehört? Zeigte sich hier bereits die große Versuchung aller Kirchen-Herren, den biblischen Weg der Gotteserkenntnis doch lieber nicht bis zum Ende mitzugehen und die Menschwerdung Gottes nur halb ernst zu nehmen? War es verlockender für sie, in Macht und Würde gekleidet einen in fernen Himmeln thronenden Herrn zu repräsentieren, als an der Seite eines herabgestiegenen Gottes geknechtete Menschen aufzurufen, »Unmögliches« zu wagen?

In den Bibelübersetzungen, die das kirchliche Leben prägen, wurde bis heute noch nichts für diesen Austausch der Gottesbilder geändert. Die maßgebende Gottesvorstellung der Bibel bleibt somit hinter einem schweren Vorhang verborgen, auf dem mit großen Lettern steht: HERR. So sind die mündig gewordenen Christinnen und Christen darauf angewiesen, den wirklichen Namen des biblischen Gottes selbst wiederzuentdecken.

Wenn wir endlich beginnen würden, Gott als Ich-bin-da zu verstehen, ihn gar zu nennen, so, wie er selbst genannt werden will, werden wir bald spüren, wie sich unser Gottesbild verändert. Nicht nur, dass in unserer Fantasie das Ich dieses Namens ebenso männlich wie weiblich gefüllt werden kann. Wir werden vor allem spüren, welche Kraft in unserer biblischen Glaubenstradition steckt, die einen Gott verkündet, der uns Mut macht und auffordert, gemeinsam aufzubrechen aus allem, was knechtet und erniedrigt, um mit ihm das zukünftige Shalom zu finden. Was für ein befreiender Glaube! Gott braucht den Vergleich mit einem HERRN nicht. Der Gott, an den wir glauben, heißt Ich-bin-da . Gott ist ein Gott-unterwegs-mit-seinen-Menschen.
 

Joachim Friebe, der Autor, als katholischer Pastoraltheologe promoviert, ist heute evangelischer Pfarrer

Entnommen mit freundlicher Genehmigung aus:
Publik-Forum Nr. 3/2000, S. 46-48
 


 

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