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Carl Sonnenschein
Geist
der Caritas
Lassen Sie mich
in drei Worten sagen, wie ich mir denke, daß Caritas gestaltet sein
muß, die uns in der Not der Zeit obliegt! Ich sehe sie dreifach
umrissen. In dem Platz, der ihr von rechtswegen zukommt. In der Welt,
mit der sie seelisch verbunden ist. In der Quelle, aus der ihre Kraft
entspringt.
Caritas lästert
nicht das Gesetz. Gesetz ist primärer als Caritas. Gesetz ist Sachlichkeit,
Struktur, Rohbau. Ein sozialschöpferisches Gesetz erledigt tausendfache
Caritas. Wir wollen uns freuen, wenn Nothilfe überflüssig wird.
Besser ein starkes Siedlungsgesetz und zwanzigtausend gesunde Wohnungen,
als die Flickarbeit der Mithilfe für die unmöglichen Zimmer
des Hinterhauses. Unser Ziel ist nicht, feuchte Wände mit caritativer
Tapete zu bekleben. Wir wollen uns, wenn es möglich wäre, ausschalten
durch die großzügige, gesetzliche Ordnung der Dinge. Darum
sollen unsere Organisationen nicht kleinbürgerlich nur das Nächste
sehen. Sie sollen in den Rahmen der staatspolitischen und sozialreformerischen
Kräfte eingespannt sein. Es gehört sich, daß Vinzenzvereine
die öffentlichen Bemühungen um Arbeitslosigkeit, um Wohnungsfrage,
um Lohnregulierung, um produktive Wirtschaft bewußt unterstützen!
Die Zelle der Caritas ist kein verträumtes Landhaus. Jenseits der
Straße. Sondern telephonumschlungene, verkehrsumrauschte Zentrale!
Mitten zwischen die Büros, die Kassen, die Stuben der Menschen gebaut.
Gesetz braucht Caritas. Es gibt Tragik des Lebens. Die keine Theorie und
keine Staatsweisheit mindern. Keine Zukunftsordnung vermag ihre Abgründe
zu füllen. Zwischen die Register der Behörden fällt doch
immer wieder, durch allen Staub und durch alle Maschinen systematischer
Arbeit, des Menschen Schicksal! Die Welt läßt sich in Sprechstunden
nicht erledigen! Über aller Kartothek und aller Sprechstunde muß
der Mensch stehen. Dem du über die Tische hinweg die Hand reichst.
Keine psychoanalytische Prüfung erschöpft die Geheimnisse der
Not. So hat die lebendige Caritas, die feinste, die menschlichste, die
vornehmste Aktivität, die ich mir denken kann, ihren Platz. Von rechtswegen.
Wir wissen auch,
daß wir nicht allein zur Meisterung und zur Linderung der Not die
Hände regen. Neben uns stehen andere. Es ist nicht unsere Aufgabe,
der Welt die Motive zu diktieren. Aus der die andere Caritas quillt. Wir
erleben sie [410] und stellen uns bescheiden und koalitionsbereit neben
sie. Im Caritativen gibt's kein Monopol. Wir achten ehrlich die Leistung
der anderen. Evangelisches Christentum ist reich an caritativem Willen.
In sozialistischen Organisationen brennt, oft genug, das ernste Feuer
christlicher Nächstenliebe. So achten wir die religiöse, so
unklassische und vorbildlose, aber sozial so wertvolle und anregende Arbeit
der Heilsarmee. Die Quäker seien nicht vergessen. Die jüdischen
Hilfsorganisationen gerne erwähnt. Das Wohlfahrtshaus auf der Oranienburger
Straße zu Berlin, in dem die drei Konfessionen ihre freie Wohlfahrtshilfe
zu gemeinsamem Wohnsitz und zu gemeinsamer Tagung zusammengeschlossen
haben, ist dieser bescheidenen Eingliederung sichtbares Symbol.
Die Caritas muß
auch dieses verstehen! Daß diese neuen Menschen zu besinnlicher
sittlich-religiöser Überlegung nicht kommen. Der "Goffine"
ist mit der Großmutter ins Altersheim gewandert. Kein "Leben
der Heiligen" zum Nachtisch mehr. Nicht mehr der "Kalender"
des bäuerlichen Landes. Kein "Hinkender Bote". Alles rasche
Zivilisation! Zigarettengewölk in Stube und Café. Wanderschrift
an den Dächern. Aufschreiende Lichter an den Kinopalästen. Am
Capitol. Am Atrium. Am Primus. Die Großstadt peitscht die Menschen.
Jagt sie vom Wochenanfang zu Wochenende. Wer hat für beschauliche
Philosophie noch Muße? Neulich las einer unserer Freunde, in einem
von Schinkel gezeichneten Haus, Plato. Wir waren Berlin entrückt.
Mein Gott! Wer überdenkt hier noch des Griechen Staatsweisheit und
seine religiösen Dialoge? Die Zeit ist ganz "Revue" geworden!
Ganz Jazzmusik! Ganz Fliegertempo! Auch keine Zeit mehr zum Sterben! Das
geht unversehens. Bei vielen "unversehen". Die einzige Viertelstunde
erzwungenen Nachdenkens bringt das Begräbnis des andern! Des Geschäftsfreundes!
Des Verwandten! Dann nimmst du deinen Zylinder und hältst stille!
Nun ruft dich niemand ans Telephon. Nun denkst du nach! So kommt die naturhafte
Gotterkenntnis, die wir aus Dogma und Katholizismus kennen, in der Not
dieser Zeit nicht mehr zur Blüte. Der Mensch wird Maschine. Er lehnt
sich schon fast nicht mehr dagegen auf. Mein Gott! Nachher wird man eingebuddelt
und ist vergessen! Das ist das Schicksal der neuen Zeit. Über ihr
stehen nicht mehr, wie einst, die Sterne der Heimat und die Lichter des
Weihnachtsbaumes. Wer diese Zeit nicht aus den innersten Bedingtheiten
sieht und aus tiefster Seele, ob er auch ihre im Grunde verfehlte sündhafte
Struktur anklagt, gern hat, das heißt die Menschen, der kann ihr
nicht helfen. Sie vertraut sich ihm nicht an. Sonst aber schenkt sie ihm,
über alle Schranken der Konfession und seiner priesterlichen Uniform
hinweg, ihr Herz. Die Caritas, die wir anrufen, muß über den
Thermalgehalt ihrer Quellen im klaren sein. Muß wissen, woher sie
kommt und mit welchem Recht sie vor das [411] Angesicht der Zeit treten
kann! Ganz aufrecht! Der unvergleichlichen Kräfte bewußt, die
Gebet und Gelübde ihrer Klöster ihr schenken. Bewußt des
grundsätzlichen Sozialprogramms ihrer Kirche. Dessen Wasser zu fangen
und auf die Turbinen der Wohlfahrtspflege, der Waisenfürsorge, der
Prostituiertenhilfe, der Wohnungsreform, des neuen Solidarismus zu leiten,
die Aufgabe unseres Geschlechtes ist. Ich scheue mich daran zu erinnern,
welche Rolle das Evangelium der caritativen Arbeit zuweist. Ich fürchte
die Abgegriffenheit der alten Worte. Aber es ist doch so, daß unser
Herr und Meister immer wieder neben das Gebot der Gottverbundenheit das
Gebot des Menschendienstes gesetzt hat. Der Schriftgelehrte schrieb gerade
die Doktorarbeit über das Wesen des Judentums. Das war damals die
Preisaufgabe. Schon gut! Im Angesichte Jahves wandeln! Natürlich!
Das ist. die charakteristische Silhouette des Orthodoxen! Vor Gott stehen.
Vom Hahnenschrei des Morgens bis zur Abendröte der Nacht! Vor ihm
wandeln! Größeres kann kein Israeli seinen Kindern mit ins
Leben geben. Aber der Meister zwingt diesen Rabbiner, der die Bücher
Moses auswendig weiß, auch die andere Stelle herzusagen. Da steht
ein zweites Gebot. Dieses ist dem ersten gleichzustellen. Das Gebot vom
Mitmenschen, dem man helfen soll! Es heißt sogar: lieben soll. Dieses
ist die Erfüllung. Bleibt mir weg mit den Hymnen Davids! Bleibt mir
weg mit den Tänzen auf Sion! Bleibt mir weg mit dem Zehnten an den
Tempel! Wenn du die Nutzanwendung für deine nächste Nachbarschaft
nicht ziehst! Dir nützt keine Fahrt nach Konnersreuth! Dir nützt
kein Pilgerzug nach Lourdes. Wenn du daheim der ekelhafte Egoist bist!
Wenn du dich nicht vor dem Antlitz des Mitmenschen neigst! In ihm den
ewigen Gott irgendwie verehrst. So hat er gesagt. Paulus und Johannes
haben diese seine Lehre wiederholt und unterstrichen. Für das erste
Christentum ist typisch diese in lebendiger Caritas sich auswirkende Religiösität!
Diese Caritas rufen wir! Die Katholiken der Welt und die Katholiken Deutschlands
müssen durch sie charakterisiert sein.
Es sei daran erinnert,
daß die Nächstenliebe von Christen übervölkisch formuliert
wird. Das war frühjüdischer Begriff. Der noch aus den Tanks
der Uroffenbarung schöpfte. Die späte Zeit, die Paulus so wenig
mag, hat diese Weite eingeschnürt zur nationalistischen "Förderung
des Volksgenossen". Christus reißt die Stricke wieder auf und
proklamiert die Parabel des Samariters, den Horizont der Menschheit! Die
Stunde schlägt, scheint mir, heute vom Turm, diesen Horizont bewußt
zu sehen und die Caritas der deutschen Katholiken bewußt über
die Grenzen der Konfession zu recken. Die Leutesdorfer haben so ihre Johannisheime,
Asyle der Obdachlosen, aufgebaut. Platz für jedermann! Über
den Zaun der Partei und der Konfession absolut hinaus. Damit ist neuer
Durchbruch zur neuen Zeit [412] geworden. Ich denke, Signal, das zur Nachfolge
ruft! Gewiß bleibt das paulinische Wort wahr, daß die Caritas
zunächst der Gemeinde gilt. Damit sind unsere Sorgen für Diaspora,
für die Kommunikantenanstalten, für die Waisenhäuser, für
den Bonifatiusverein in guter Hut. Aber wie die Seelsorge der Kirche nie
von den christlichen Völkern monopolisiert werden kann, sondern immer
wieder zu den heidnischen durchbricht, so liegt die Caritas für jedermann
in der Dynamik der katholischen Nächstenliebe. Die Zeit ruft zur
Erfüllung dieser Caritaspflicht. Ja, gerade diese Erfüllung
scheint mir vorsehungsgemäß. Vor den heidnischen Menschen der
Großstadt ist Apologetik des Wortes fruchtlos. Sind Vorträge
aus der Geschichte wie chinesisches Schauspiel! Papier! Damit deckt man
keinen Tisch! Damit düngt man keinen Garten! Damit heilt man kein
Fieber! Wir brauchen kongeniale Kräfte. Die diesen Menschen eingehen.
Die Männer des germanischen Urwaldes traf, wie Donnerschlag, die
unter dem Axtbeil Winfrieds zusammenbrechende Eiche. Diese Eiche war ein
Stück ihrer selbst. Ihr Zusammenbruch wühlte ihre ganze Seele
auf. Kirchengeschichte und Apologetik wühlen nichts auf! Sie sind
Fremdsprache und Papier. Nur eines reicht an diese Menschen heran, die
das Christentum, auch nicht mehr aus den Erzählungen ihrer Väter,
kennen, auch nicht mehr vom Rosenkranz ihrer Mutter, auch nicht aus dem
Religionsunterricht der eigenen Schulzeit. Nur eines werden sie begreifen.
Die an eigenem Leibe, an eigener Seele, an eigener Not erlebte Güte
dieser Religion in ihren Vertretern.
Gekürzter Abdruck eines
Referates beim 66. Deutschen Katholikentag, Dortmund 1927. In: Ernst Thrasolt:
Dr. Carl Sonnenschein, Notizen/Weltstadtbetrachtungen. 1955. Zitiert aus:
Georg Thurmair, Richard Sattelmair, Erich Lampey (Hrsg.): Weg und Werk.
Die Katholische Kirche in Deutschland. München (Pustet) 1960, S.
409-412.
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