Texte

 

Unser Ziel ist nicht, feuchte Wände
mit caritativer Tapete zu bekleben!

In der Tübinger Südstadt steht das Carl-Sonnenschein-Heim. Viele wissen zwar, dass das Hochhaus an der Hechingerstraße gegenüber dem Loretto-Viertel ein Studentenheim ist. Wer Carl Sonnenschein (1876-1929) war, ist weniger bekannt - trotz der vielen anderen Heime und Schulen in Deutschland, die nach ihm benannt sind.

Wenn man die nachstehende Rede liest, die Carl Sonnenschein auf dem 66. Deutschen Katholikentag in Dortmund 1927 hielt, kann man verstehen, dass sich dieser mutige katholische Geistliche nicht nur Freunde gemacht hat, auch nicht bei seinen kirchlichen Vorgesetzten.

Wie in den Jahren vor 1933 wird in unserer Gesellschaft die Kluft zwischen Armen und Reichen immer größer. Die Folgen einer globalisierten liberalen Marktwirtschaft spüren immer größere Teile unserer Bevölkerung.
Carl Sonnenscheins Worte sollten nicht vergessen werden, am wenigsten in kirchlichen Kreisen, die sich programmatisch um den Geist der Caritas bemühen. Wenn er hier von "Caritas" spricht, meint er aber nicht den kath. Sozialverband gleichen Namens, sondern die zweite tragende Säule des christlichen Lebens, die Liebe zum Nächsten, zum Menschen in Not.

 
 

 

Carl Sonnenschein

Geist der Caritas

Lassen Sie mich in drei Worten sagen, wie ich mir denke, daß Caritas gestaltet sein muß, die uns in der Not der Zeit obliegt! Ich sehe sie dreifach umrissen. In dem Platz, der ihr von rechtswegen zukommt. In der Welt, mit der sie seelisch verbunden ist. In der Quelle, aus der ihre Kraft entspringt.

Caritas lästert nicht das Gesetz. Gesetz ist primärer als Caritas. Gesetz ist Sachlichkeit, Struktur, Rohbau. Ein sozialschöpferisches Gesetz erledigt tausendfache Caritas. Wir wollen uns freuen, wenn Nothilfe überflüssig wird. Besser ein starkes Siedlungsgesetz und zwanzigtausend gesunde Wohnungen, als die Flickarbeit der Mithilfe für die unmöglichen Zimmer des Hinterhauses. Unser Ziel ist nicht, feuchte Wände mit caritativer Tapete zu bekleben. Wir wollen uns, wenn es möglich wäre, ausschalten durch die großzügige, gesetzliche Ordnung der Dinge. Darum sollen unsere Organisationen nicht kleinbürgerlich nur das Nächste sehen. Sie sollen in den Rahmen der staatspolitischen und sozialreformerischen Kräfte eingespannt sein. Es gehört sich, daß Vinzenzvereine die öffentlichen Bemühungen um Arbeitslosigkeit, um Wohnungsfrage, um Lohnregulierung, um produktive Wirtschaft bewußt unterstützen! Die Zelle der Caritas ist kein verträumtes Landhaus. Jenseits der Straße. Sondern telephonumschlungene, verkehrsumrauschte Zentrale! Mitten zwischen die Büros, die Kassen, die Stuben der Menschen gebaut. Gesetz braucht Caritas. Es gibt Tragik des Lebens. Die keine Theorie und keine Staatsweisheit mindern. Keine Zukunftsordnung vermag ihre Abgründe zu füllen. Zwischen die Register der Behörden fällt doch immer wieder, durch allen Staub und durch alle Maschinen systematischer Arbeit, des Menschen Schicksal! Die Welt läßt sich in Sprechstunden nicht erledigen! Über aller Kartothek und aller Sprechstunde muß der Mensch stehen. Dem du über die Tische hinweg die Hand reichst. Keine psychoanalytische Prüfung erschöpft die Geheimnisse der Not. So hat die lebendige Caritas, die feinste, die menschlichste, die vornehmste Aktivität, die ich mir denken kann, ihren Platz. Von rechtswegen.

Wir wissen auch, daß wir nicht allein zur Meisterung und zur Linderung der Not die Hände regen. Neben uns stehen andere. Es ist nicht unsere Aufgabe, der Welt die Motive zu diktieren. Aus der die andere Caritas quillt. Wir erleben sie [410] und stellen uns bescheiden und koalitionsbereit neben sie. Im Caritativen gibt's kein Monopol. Wir achten ehrlich die Leistung der anderen. Evangelisches Christentum ist reich an caritativem Willen. In sozialistischen Organisationen brennt, oft genug, das ernste Feuer christlicher Nächstenliebe. So achten wir die religiöse, so unklassische und vorbildlose, aber sozial so wertvolle und anregende Arbeit der Heilsarmee. Die Quäker seien nicht vergessen. Die jüdischen Hilfsorganisationen gerne erwähnt. Das Wohlfahrtshaus auf der Oranienburger Straße zu Berlin, in dem die drei Konfessionen ihre freie Wohlfahrtshilfe zu gemeinsamem Wohnsitz und zu gemeinsamer Tagung zusammengeschlossen haben, ist dieser bescheidenen Eingliederung sichtbares Symbol.

Die Caritas muß auch dieses verstehen! Daß diese neuen Menschen zu besinnlicher sittlich-religiöser Überlegung nicht kommen. Der "Goffine" ist mit der Großmutter ins Altersheim gewandert. Kein "Leben der Heiligen" zum Nachtisch mehr. Nicht mehr der "Kalender" des bäuerlichen Landes. Kein "Hinkender Bote". Alles rasche Zivilisation! Zigarettengewölk in Stube und Café. Wanderschrift an den Dächern. Aufschreiende Lichter an den Kinopalästen. Am Capitol. Am Atrium. Am Primus. Die Großstadt peitscht die Menschen. Jagt sie vom Wochenanfang zu Wochenende. Wer hat für beschauliche Philosophie noch Muße? Neulich las einer unserer Freunde, in einem von Schinkel gezeichneten Haus, Plato. Wir waren Berlin entrückt. Mein Gott! Wer überdenkt hier noch des Griechen Staatsweisheit und seine religiösen Dialoge? Die Zeit ist ganz "Revue" geworden! Ganz Jazzmusik! Ganz Fliegertempo! Auch keine Zeit mehr zum Sterben! Das geht unversehens. Bei vielen "unversehen". Die einzige Viertelstunde erzwungenen Nachdenkens bringt das Begräbnis des andern! Des Geschäftsfreundes! Des Verwandten! Dann nimmst du deinen Zylinder und hältst stille! Nun ruft dich niemand ans Telephon. Nun denkst du nach! So kommt die naturhafte Gotterkenntnis, die wir aus Dogma und Katholizismus kennen, in der Not dieser Zeit nicht mehr zur Blüte. Der Mensch wird Maschine. Er lehnt sich schon fast nicht mehr dagegen auf. Mein Gott! Nachher wird man eingebuddelt und ist vergessen! Das ist das Schicksal der neuen Zeit. Über ihr stehen nicht mehr, wie einst, die Sterne der Heimat und die Lichter des Weihnachtsbaumes. Wer diese Zeit nicht aus den innersten Bedingtheiten sieht und aus tiefster Seele, ob er auch ihre im Grunde verfehlte sündhafte Struktur anklagt, gern hat, das heißt die Menschen, der kann ihr nicht helfen. Sie vertraut sich ihm nicht an. Sonst aber schenkt sie ihm, über alle Schranken der Konfession und seiner priesterlichen Uniform hinweg, ihr Herz. Die Caritas, die wir anrufen, muß über den Thermalgehalt ihrer Quellen im klaren sein. Muß wissen, woher sie kommt und mit welchem Recht sie vor das [411] Angesicht der Zeit treten kann! Ganz aufrecht! Der unvergleichlichen Kräfte bewußt, die Gebet und Gelübde ihrer Klöster ihr schenken. Bewußt des grundsätzlichen Sozialprogramms ihrer Kirche. Dessen Wasser zu fangen und auf die Turbinen der Wohlfahrtspflege, der Waisenfürsorge, der Prostituiertenhilfe, der Wohnungsreform, des neuen Solidarismus zu leiten, die Aufgabe unseres Geschlechtes ist. Ich scheue mich daran zu erinnern, welche Rolle das Evangelium der caritativen Arbeit zuweist. Ich fürchte die Abgegriffenheit der alten Worte. Aber es ist doch so, daß unser Herr und Meister immer wieder neben das Gebot der Gottverbundenheit das Gebot des Menschendienstes gesetzt hat. Der Schriftgelehrte schrieb gerade die Doktorarbeit über das Wesen des Judentums. Das war damals die Preisaufgabe. Schon gut! Im Angesichte Jahves wandeln! Natürlich! Das ist. die charakteristische Silhouette des Orthodoxen! Vor Gott stehen. Vom Hahnenschrei des Morgens bis zur Abendröte der Nacht! Vor ihm wandeln! Größeres kann kein Israeli seinen Kindern mit ins Leben geben. Aber der Meister zwingt diesen Rabbiner, der die Bücher Moses auswendig weiß, auch die andere Stelle herzusagen. Da steht ein zweites Gebot. Dieses ist dem ersten gleichzustellen. Das Gebot vom Mitmenschen, dem man helfen soll! Es heißt sogar: lieben soll. Dieses ist die Erfüllung. Bleibt mir weg mit den Hymnen Davids! Bleibt mir weg mit den Tänzen auf Sion! Bleibt mir weg mit dem Zehnten an den Tempel! Wenn du die Nutzanwendung für deine nächste Nachbarschaft nicht ziehst! Dir nützt keine Fahrt nach Konnersreuth! Dir nützt kein Pilgerzug nach Lourdes. Wenn du daheim der ekelhafte Egoist bist! Wenn du dich nicht vor dem Antlitz des Mitmenschen neigst! In ihm den ewigen Gott irgendwie verehrst. So hat er gesagt. Paulus und Johannes haben diese seine Lehre wiederholt und unterstrichen. Für das erste Christentum ist typisch diese in lebendiger Caritas sich auswirkende Religiösität! Diese Caritas rufen wir! Die Katholiken der Welt und die Katholiken Deutschlands müssen durch sie charakterisiert sein.

Es sei daran erinnert, daß die Nächstenliebe von Christen übervölkisch formuliert wird. Das war frühjüdischer Begriff. Der noch aus den Tanks der Uroffenbarung schöpfte. Die späte Zeit, die Paulus so wenig mag, hat diese Weite eingeschnürt zur nationalistischen "Förderung des Volksgenossen". Christus reißt die Stricke wieder auf und proklamiert die Parabel des Samariters, den Horizont der Menschheit! Die Stunde schlägt, scheint mir, heute vom Turm, diesen Horizont bewußt zu sehen und die Caritas der deutschen Katholiken bewußt über die Grenzen der Konfession zu recken. Die Leutesdorfer haben so ihre Johannisheime, Asyle der Obdachlosen, aufgebaut. Platz für jedermann! Über den Zaun der Partei und der Konfession absolut hinaus. Damit ist neuer Durchbruch zur neuen Zeit [412] geworden. Ich denke, Signal, das zur Nachfolge ruft! Gewiß bleibt das paulinische Wort wahr, daß die Caritas zunächst der Gemeinde gilt. Damit sind unsere Sorgen für Diaspora, für die Kommunikantenanstalten, für die Waisenhäuser, für den Bonifatiusverein in guter Hut. Aber wie die Seelsorge der Kirche nie von den christlichen Völkern monopolisiert werden kann, sondern immer wieder zu den heidnischen durchbricht, so liegt die Caritas für jedermann in der Dynamik der katholischen Nächstenliebe. Die Zeit ruft zur Erfüllung dieser Caritaspflicht. Ja, gerade diese Erfüllung scheint mir vorsehungsgemäß. Vor den heidnischen Menschen der Großstadt ist Apologetik des Wortes fruchtlos. Sind Vorträge aus der Geschichte wie chinesisches Schauspiel! Papier! Damit deckt man keinen Tisch! Damit düngt man keinen Garten! Damit heilt man kein Fieber! Wir brauchen kongeniale Kräfte. Die diesen Menschen eingehen. Die Männer des germanischen Urwaldes traf, wie Donnerschlag, die unter dem Axtbeil Winfrieds zusammenbrechende Eiche. Diese Eiche war ein Stück ihrer selbst. Ihr Zusammenbruch wühlte ihre ganze Seele auf. Kirchengeschichte und Apologetik wühlen nichts auf! Sie sind Fremdsprache und Papier. Nur eines reicht an diese Menschen heran, die das Christentum, auch nicht mehr aus den Erzählungen ihrer Väter, kennen, auch nicht mehr vom Rosenkranz ihrer Mutter, auch nicht aus dem Religionsunterricht der eigenen Schulzeit. Nur eines werden sie begreifen. Die an eigenem Leibe, an eigener Seele, an eigener Not erlebte Güte dieser Religion in ihren Vertretern.

Gekürzter Abdruck eines Referates beim 66. Deutschen Katholikentag, Dortmund 1927. In: Ernst Thrasolt: Dr. Carl Sonnenschein, Notizen/Weltstadtbetrachtungen. 1955. Zitiert aus: Georg Thurmair, Richard Sattelmair, Erich Lampey (Hrsg.): Weg und Werk. Die Katholische Kirche in Deutschland. München (Pustet) 1960, S. 409-412.

 
 

 

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