|
Dorothee Sölle
Paulus als Mystiker des Todes
? oder: "Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?"
(Römer 7,24)
Ich kann nicht glauben, dass
der Tod "der Sünde Sold" (Römer 6,23) ist, es kann
doch nicht gemeint sein, dass jedes verhungernde Kind selber schuld wäre!
Noch weniger kann ich glauben, dass der Tod der "letzte Feind"
(l. Korinther 15,26) sein soll. Ist er nicht mit mehr Recht Freund Hein
oder Schlafes Bruder oder gar der ersehnte "süsse Tod",
den Bach besingt? Der unbekannte Dichter dieses 1724 auftauchenden Textes
bittet den Tod: "Komm, führe mich in Frieden, weil ich der Welt
bin müde."
Das christliche Verständnis
des Todes hat viele verschiedene Stimmen. Paulus denkt primär nicht
an den physischen Tod des Einzelnen, sondern an die allgegenwärtige
widergöttliche Zerstörungsmacht, die seine Welt beherrscht.
Es ist das Imperium, das sich als "pax Romana" verkauft und
zugleich weltweite Sklaverei verbreitet. Paulus versteht die damalige
Welt als eine, in der Menschen unentrinnbar gefangen sind, weil sie unter
der totalitären Herrschaft der Sünde stehen. Im Römerbrief
kommt das Wort "Sünde" im Singular 48 mal vor, während
die faktischen sündigen Taten der Menschen, an die wir meistens bei
"Sünde" denken, das "Sündigen", nur siebenmal
erscheint. Paulus denkt die Sünde nicht in einem individualistischen
Verständnis, sondern als eine gesellschaftliche Realität, die
Menschen im römischen Weltreich beherrscht und formt. Die zentralen
Aussagen über die Sünde "haben alle einen gemeinsamen Nenner:
dass sie in Herrschaftsbeziehungen (nicht in Kategorien der Schuld und
des Tuns) gedacht sind." (Luise Schottroff, Die Schreckensherrschaft
der Sünde und die Befreiung durch Christus nach dem Römerbrief
des Paulus, in: dies., Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte
des NT, München 1990, S. 57ff.)
Paulus' Wirklichkeit ist nicht
die der römischen Prachtbauten, Bäder und Gelage. Auf seinen
Missionsreisen ging er immer von den jüdischen Gemeinden, die er
besuchte, aus. Er kannte ihre Realität: schwere körperliche
Arbeit und bittere Armut, dazu der immer wieder erneute Zwang zu Ergebenheitsadressen
der Kaiserherrschaft gegenüber, die häufig gegen die Tora des
jüdischen Volkes verstießen. Der Kaiser Caligula (37-41 n.Chr.)
verlangte, dass sein Bild im Tempel in Jerusalem aufgestellt und er somit
als Gott anzuerkennen sei. Interessant ist auch zu wissen, dass sich die
römischen Kaiser erst spät als "Dominus" anreden ließen,
was sich Augustus und Tiberius noch drastisch verbeten hatten, weil damit
ihre Untertanen als Sklaven bezeichnet wurden. (Schottroff, S. 64 f)
Der römische Geschichtsschreiber
Tacitus nennt die Leiden der meisten Menschen unter der römischen
Weltherrschaft beim Namen, sie sind Sklaven, und genau das hat auch Paulus
gewusst. Er nennt diese Sklavenherrschaft "Sünde", und
der Tod ist die Bezahlung, die die Unterwerfung unter die Sünde zur
Folge hat. Welcher Tod ist da gemeint?
Es ist nicht das Ableben, die
Endlichkeit der Menschen, das Sterben, also unser normales Verständnis
vom Tod, sondern etwas ganz anderes, die Unterwerfung unter die tyrannische
Herrschaft der Sünde. Paulus sah die Sünde herrschen, eine allgegenwärtige,
Gott verleugnende Zerstörungsmacht, die in der römischen Welt
Anbetung verlangte. Er spricht vom "Stachel des Todes" (1. Korinther
15,56), das griechische Wort "kentron" bezeichnet einen mit
eisernen Stacheln besetzten Stab, mit dem man Tiere antrieb und Sklavinnen
und Sklaven folterte. Die Wörter "Tod und Sünde" sind
für Paulus nahezu austauschbar, beide spielen ihre "Rolle als
Wehbeherrscher und Sklaventreiber" (Schottroff, S.62). Der Mensch
ist unter die Sünde verkauft. (Römer 7,14) Paulus schließt
seine verzweifelte Klage in Römer 7 mit dem persönlichen Aufschrei:
"Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses
Todes?" (Römer 7,17-18 und 24)
Der Neurologe Rudolf Kautzky
hat einige Paulustexte (Römer 7,17-18 und 24) anders und alltagssprachlich
übersetzt. "Genaugenommen handle nicht ich, sondern die mich
beherrschende Selbstsucht. Ich weiß, dass das nicht richtig ist,
aber ich werde mit mir selbst nicht fertig, und so handle ich gegen meine
Überzeugung. Ich unglückseliger Mensch! Wer befreit mich von
dieser echtes Leben verhindernden Last?" (Rudolf Kautzky, Sein Programm.
Neutestamentliche Texte - neu, Stuttgart 1984)
Die Weltherrschaft der Sünde
wird bei Paulus mit verschiedenen Wörtern benannt: Sie herrscht als
Königin, sie ist "kyrios", nicht im späteren liturgischen
Sinn der Christen, sondern als Herrin und Sklavenbesitzerin, sie ist Gesetzgeberin
und Kriegsherrin, "ihr weltweites Herrschaftsinstrument ist der Tod",
ihr Gesetz der Sünde ist "gerade der Zwang, der es unmöglich
macht, den Willen Gottes, die Tora, zu erfüllen" (Schottroff,
S. 59).
Albert Schweitzer (1875-1965)
hat die paulinische Erlösungslehre als Mystik gedeutet. Er denkt
die Notwendigkeit des Sterbens nicht im physischen Sinn des Ablebens,
sondern ganz diesseitig als eine Ethik des Erlöstseins, in der Menschen
nicht mehr gezwungen sind, den Götzen zu dienen. Für Paulus
ist nach Schweitzer das Christentum keine neue Religion, sondern die Fortsetzung
des Judentums, er war nicht der "Hellenisator des Christentums".
Sterben und mit Christus Auferstehen bedeutet bei Schweitzer, in die andere
Seinsweise des Reiches Gottes einzutreten. Mystik heißt hier also
nicht unbedingt "Einssein mit Gott", wohl aber das "Sein
in Christo als ein Gestorben- und Auferstandensein mit ihm" (Werke
3/28). Es ist interessant zu sehen, wie die "Mystik des Apostels
Paulus" bei Schweitzer dem feministisch-befreiungstheologischen Ansatz
von heute in seiner Ethik, die sich eben nicht nur auf das Individuum
bezieht, entspricht.
"Alle tiefe Philosophie,
alle tiefe Religion ist zuletzt nichts anderes als ein Ringen um ethische
Mystik und mystische Ethik", sagt Schweitzer in seiner Kulturphilosophie
(II 370), und dabei fließen ihm die Begriffe "Mystik"
und "Ethik" immer wieder ineinander. Genau darauf beruft er
sich in seiner Deutung des Paulus. "Die das Denken befriedigende
Ethik muss aus Mystik geboren werden", die Ethik muss aus der Mystik
des Verbundenseins mit allem, was lebt, "kommen wollen". Und
zusammenfassend in einem Bild: "Die Mystik ... ist nicht die Blume,
sondern nur der Kelch einer Blume. Die Blume ist die Ethik." Das
ist die schönste Übersetzung meines etwas trocken zusammenfassenden
Satzes "Mystik ist Widerstand". Mystik ist für Schweitzer
"nur ein anderer Ausdruck der eschatologischen Vorstellung von der
Erlösung". (Werke 4/166) Das Ewige und das Ethische sind eine
Einheit, genau wie die alten Mystiker das Gute, das Schöne und das
Wahre als Einheit zu denken versuchten.
Auch heute leben wir in einer
dem römischen Imperium vergleichbaren Welt, in der Mitmachen und
die Unterwerfung unter die uns beherrschenden Götzen von Paulus her
gesehen als ein Im-Tode-Sein zu verstehen sind. Unsere Götzen haben
andere Namen, die man vielleicht cash und fun nennen kann, unser Im-Tode-Sein
sieht sehr gepflegt und langlebig aus. Was man heute die "pax americana"
nennen kann (ich kenne den Ausdruck durch amerikanische Freunde des Friedens),
ist ein System, das auf die Selbstbereicherung von 20 Prozent der Menschen
eingestellt ist und die Verelendung der Übrigen und die Zerstörung
der Schöpfung in Kauf nimmt. Neue Formen der Sklaverei, wie etwa
die Behandlung der Textilsklavinnen, die unsere wunderbar billigen T-shirts
herstellen, oder der weltweit wachsenden Anzahl von Sexsklavinnen, sprechen
eine klare Sprache. Die Beschreibung der pax romana trifft auf den Neoliberalismus,
unter dem wir leben, vollständig zu. Wann werden wir mit und von
Paulus lernen, uns nach der Erlösung "von dem Leibe dieses Todes"
zu sehnen?
Der "Leib des Todes",
in dem wir alle leben, bedeutet die Verhinderung des echten Lebens, das
auf die Beziehung zum Nächsten, von dem Buber sagt: "er ist
wie Du", gerichtet ist. Tod ist in unserer Welt die Zerstörung
jeder Gemeinsamkeit. Das "enlightened self-interest" des Individuums
ist zur einzigen Regel in einer wachsend weiter "deregulierten"
Welt geworden.
Die Sklaverei der Sünde,
die Paulus "Tod" nennt, hat für Paulus in Christus geendet.
Gelebte Auferstehung bedeutet Aufstand gegen den Tod, der dem Leben nur
ein Weiter-vegetieren gestattet. Unsere Beteiligung an der Auferstehung
aus der Sklaverei ist notwendig. Kautzky übersetzt den Satz aus 1.
Korinther 15,17 neu, der bei Luther so klingt: "Ist Christus aber
nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, so seid ihr noch in euren
Sünden." In deutlicher Zuspitzung auf gegenwärtige kirchliche
Verhältnisse übersetzt Kautzky: "Wir behaupten, Jesus sei
auferstanden, ohne diese Behauptung Wahrheit werden zu lassen. Dann vegetieren
wir immer noch, statt zu leben.
"Eine andere Welt ist möglich." Das ist ein wunderbarer
Satz der heutigen Globalisierungsgegner. Sie könnten auch mit Paulus
sagen: "Wir wissen doch: Wir haben unsere alte Wertordnung fallen
lassen und sind nicht mehr vom Haben abhängig." (Römer
6,6 f.) Es gibt eine Auferstehung aus dem Tod, der uns versklavt. Wir
sind frei geworden.
Das Philippus-Evangelium aus
der frühchristlichen Literatur drückt dasselbe Wissen von dem,
was "Tod" und was "Leben" bedeutet, mit dem verrückt
klingenden, aber denk-würdigen Satz aus: "Ein heidnischer Mensch
stirbt nicht, denn er hat nie gelebt, dass er sterben könnte."
(Schottroff, S. 60) Ist das christliche Arroganz? Wir müssen es im
Zusammenhang dessen verstehen, was Paulus über den Tod innerhalb
der römischen Sklaverei sagt. Die Sklaverei wird nicht mehr bemerkt,
weder die Unterworfenen wissen es, noch die Sklavenbesitzer kümmert
es.
Die pax americana hat die pax
romana vor allem durch eine bessere Inszenierung und einen besseren Selbstverkauf
bei weitem übertroffen. Sie ist indessen selbstverständlich
und betrifft in der materiellen Verelendung sowieso nur die anderen. Das
ist der Tod, in dem wir heute leben. Das Logion 4 aus dem Philippus-Evangelium
fährt fort: "Wer an die Wahrheit geglaubt hat, hat gelebt, und
der ist in Gefahr zu sterben." Gehören wir dazu?
In: Dorothee Sölle: Mystik
des Todes. Ein Fragment. Stuttgart (Kreuz Verlag) 2003, S. 56-63.
Weitere
Texte zur globalisierten neoliberalen Marktwirtschaft
|
|