Texte

 

Dorothee Sölle (1929-2003)

ist eine der bekanntesten evangelischen Theologinnen, vor allem im Zusammenhang der Diskussion über politische und feministische Theologie in den 70er und 80er Jahren.

Das Vermächtnis von
Dorothee Sölle

Als Vollendung ihres Werkes "Mystik und Widerstand' begann Dorothee Sölle ihr Buch zur Mystik des Todes. Die letzten ,Zeilen davon schrieb sie zwei Tage vor ihrem Tod am 27. April 2003. Dieses Buch ist Dorothee Sölles Auseinandersetzung mit der Endlichkeit, ihre Sterbevorbereitung. Es ist ein Fragment, wie das Leben eines Menschen Fragment ist. Wer dieses Buch liest, spürt, dass ihre wundervolle und zornige Leidenschaft für das Leben bis zuletzt nicht erloschen ist.

(Aus dem Umschlagtext von Mystik des Todes)

 
 

 

Dorothee Sölle

Paulus als Mystiker des Todes ? oder: "Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?" (Römer 7,24)

Ich kann nicht glauben, dass der Tod "der Sünde Sold" (Römer 6,23) ist, es kann doch nicht gemeint sein, dass jedes verhungernde Kind selber schuld wäre! Noch weniger kann ich glauben, dass der Tod der "letzte Feind" (l. Korinther 15,26) sein soll. Ist er nicht mit mehr Recht Freund Hein oder Schlafes Bruder oder gar der ersehnte "süsse Tod", den Bach besingt? Der unbekannte Dichter dieses 1724 auftauchenden Textes bittet den Tod: "Komm, führe mich in Frieden, weil ich der Welt bin müde."

Das christliche Verständnis des Todes hat viele verschiedene Stimmen. Paulus denkt primär nicht an den physischen Tod des Einzelnen, sondern an die allgegenwärtige widergöttliche Zerstörungsmacht, die seine Welt beherrscht. Es ist das Imperium, das sich als "pax Romana" verkauft und zugleich weltweite Sklaverei verbreitet. Paulus versteht die damalige Welt als eine, in der Menschen unentrinnbar gefangen sind, weil sie unter der totalitären Herrschaft der Sünde stehen. Im Römerbrief kommt das Wort "Sünde" im Singular 48 mal vor, während die faktischen sündigen Taten der Menschen, an die wir meistens bei "Sünde" denken, das "Sündigen", nur siebenmal erscheint. Paulus denkt die Sünde nicht in einem individualistischen Verständnis, sondern als eine gesellschaftliche Realität, die Menschen im römischen Weltreich beherrscht und formt. Die zentralen Aussagen über die Sünde "haben alle einen gemeinsamen Nenner: dass sie in Herrschaftsbeziehungen (nicht in Kategorien der Schuld und des Tuns) gedacht sind." (Luise Schottroff, Die Schreckensherrschaft der Sünde und die Befreiung durch Christus nach dem Römerbrief des Paulus, in: dies., Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des NT, München 1990, S. 57ff.)

Paulus' Wirklichkeit ist nicht die der römischen Prachtbauten, Bäder und Gelage. Auf seinen Missionsreisen ging er immer von den jüdischen Gemeinden, die er besuchte, aus. Er kannte ihre Realität: schwere körperliche Arbeit und bittere Armut, dazu der immer wieder erneute Zwang zu Ergebenheitsadressen der Kaiserherrschaft gegenüber, die häufig gegen die Tora des jüdischen Volkes verstießen. Der Kaiser Caligula (37-41 n.Chr.) verlangte, dass sein Bild im Tempel in Jerusalem aufgestellt und er somit als Gott anzuerkennen sei. Interessant ist auch zu wissen, dass sich die römischen Kaiser erst spät als "Dominus" anreden ließen, was sich Augustus und Tiberius noch drastisch verbeten hatten, weil damit ihre Untertanen als Sklaven bezeichnet wurden. (Schottroff, S. 64 f)

Der römische Geschichtsschreiber Tacitus nennt die Leiden der meisten Menschen unter der römischen Weltherrschaft beim Namen, sie sind Sklaven, und genau das hat auch Paulus gewusst. Er nennt diese Sklavenherrschaft "Sünde", und der Tod ist die Bezahlung, die die Unterwerfung unter die Sünde zur Folge hat. Welcher Tod ist da gemeint?

Es ist nicht das Ableben, die Endlichkeit der Menschen, das Sterben, also unser normales Verständnis vom Tod, sondern etwas ganz anderes, die Unterwerfung unter die tyrannische Herrschaft der Sünde. Paulus sah die Sünde herrschen, eine allgegenwärtige, Gott verleugnende Zerstörungsmacht, die in der römischen Welt Anbetung verlangte. Er spricht vom "Stachel des Todes" (1. Korinther 15,56), das griechische Wort "kentron" bezeichnet einen mit eisernen Stacheln besetzten Stab, mit dem man Tiere antrieb und Sklavinnen und Sklaven folterte. Die Wörter "Tod und Sünde" sind für Paulus nahezu austauschbar, beide spielen ihre "Rolle als Wehbeherrscher und Sklaventreiber" (Schottroff, S.62). Der Mensch ist unter die Sünde verkauft. (Römer 7,14) Paulus schließt seine verzweifelte Klage in Römer 7 mit dem persönlichen Aufschrei: "Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?" (Römer 7,17-18 und 24)

Der Neurologe Rudolf Kautzky hat einige Paulustexte (Römer 7,17-18 und 24) anders und alltagssprachlich übersetzt. "Genaugenommen handle nicht ich, sondern die mich beherrschende Selbstsucht. Ich weiß, dass das nicht richtig ist, aber ich werde mit mir selbst nicht fertig, und so handle ich gegen meine Überzeugung. Ich unglückseliger Mensch! Wer befreit mich von dieser echtes Leben verhindernden Last?" (Rudolf Kautzky, Sein Programm. Neutestamentliche Texte - neu, Stuttgart 1984)

Die Weltherrschaft der Sünde wird bei Paulus mit verschiedenen Wörtern benannt: Sie herrscht als Königin, sie ist "kyrios", nicht im späteren liturgischen Sinn der Christen, sondern als Herrin und Sklavenbesitzerin, sie ist Gesetzgeberin und Kriegsherrin, "ihr weltweites Herrschaftsinstrument ist der Tod", ihr Gesetz der Sünde ist "gerade der Zwang, der es unmöglich macht, den Willen Gottes, die Tora, zu erfüllen" (Schottroff, S. 59).

Albert Schweitzer (1875-1965) hat die paulinische Erlösungslehre als Mystik gedeutet. Er denkt die Notwendigkeit des Sterbens nicht im physischen Sinn des Ablebens, sondern ganz diesseitig als eine Ethik des Erlöstseins, in der Menschen nicht mehr gezwungen sind, den Götzen zu dienen. Für Paulus ist nach Schweitzer das Christentum keine neue Religion, sondern die Fortsetzung des Judentums, er war nicht der "Hellenisator des Christentums". Sterben und mit Christus Auferstehen bedeutet bei Schweitzer, in die andere Seinsweise des Reiches Gottes einzutreten. Mystik heißt hier also nicht unbedingt "Einssein mit Gott", wohl aber das "Sein in Christo als ein Gestorben- und Auferstandensein mit ihm" (Werke 3/28). Es ist interessant zu sehen, wie die "Mystik des Apostels Paulus" bei Schweitzer dem feministisch-befreiungstheologischen Ansatz von heute in seiner Ethik, die sich eben nicht nur auf das Individuum bezieht, entspricht.

"Alle tiefe Philosophie, alle tiefe Religion ist zuletzt nichts anderes als ein Ringen um ethische Mystik und mystische Ethik", sagt Schweitzer in seiner Kulturphilosophie (II 370), und dabei fließen ihm die Begriffe "Mystik" und "Ethik" immer wieder ineinander. Genau darauf beruft er sich in seiner Deutung des Paulus. "Die das Denken befriedigende Ethik muss aus Mystik geboren werden", die Ethik muss aus der Mystik des Verbundenseins mit allem, was lebt, "kommen wollen". Und zusammenfassend in einem Bild: "Die Mystik ... ist nicht die Blume, sondern nur der Kelch einer Blume. Die Blume ist die Ethik." Das ist die schönste Übersetzung meines etwas trocken zusammenfassenden Satzes "Mystik ist Widerstand". Mystik ist für Schweitzer "nur ein anderer Ausdruck der eschatologischen Vorstellung von der Erlösung". (Werke 4/166) Das Ewige und das Ethische sind eine Einheit, genau wie die alten Mystiker das Gute, das Schöne und das Wahre als Einheit zu denken versuchten.

Auch heute leben wir in einer dem römischen Imperium vergleichbaren Welt, in der Mitmachen und die Unterwerfung unter die uns beherrschenden Götzen von Paulus her gesehen als ein Im-Tode-Sein zu verstehen sind. Unsere Götzen haben andere Namen, die man vielleicht cash und fun nennen kann, unser Im-Tode-Sein sieht sehr gepflegt und langlebig aus. Was man heute die "pax americana" nennen kann (ich kenne den Ausdruck durch amerikanische Freunde des Friedens), ist ein System, das auf die Selbstbereicherung von 20 Prozent der Menschen eingestellt ist und die Verelendung der Übrigen und die Zerstörung der Schöpfung in Kauf nimmt. Neue Formen der Sklaverei, wie etwa die Behandlung der Textilsklavinnen, die unsere wunderbar billigen T-shirts herstellen, oder der weltweit wachsenden Anzahl von Sexsklavinnen, sprechen eine klare Sprache. Die Beschreibung der pax romana trifft auf den Neoliberalismus, unter dem wir leben, vollständig zu. Wann werden wir mit und von Paulus lernen, uns nach der Erlösung "von dem Leibe dieses Todes" zu sehnen?

Der "Leib des Todes", in dem wir alle leben, bedeutet die Verhinderung des echten Lebens, das auf die Beziehung zum Nächsten, von dem Buber sagt: "er ist wie Du", gerichtet ist. Tod ist in unserer Welt die Zerstörung jeder Gemeinsamkeit. Das "enlightened self-interest" des Individuums ist zur einzigen Regel in einer wachsend weiter "deregulierten" Welt geworden.

Die Sklaverei der Sünde, die Paulus "Tod" nennt, hat für Paulus in Christus geendet. Gelebte Auferstehung bedeutet Aufstand gegen den Tod, der dem Leben nur ein Weiter-vegetieren gestattet. Unsere Beteiligung an der Auferstehung aus der Sklaverei ist notwendig. Kautzky übersetzt den Satz aus 1. Korinther 15,17 neu, der bei Luther so klingt: "Ist Christus aber nicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, so seid ihr noch in euren Sünden." In deutlicher Zuspitzung auf gegenwärtige kirchliche Verhältnisse übersetzt Kautzky: "Wir behaupten, Jesus sei auferstanden, ohne diese Behauptung Wahrheit werden zu lassen. Dann vegetieren wir immer noch, statt zu leben.
"Eine andere Welt ist möglich." Das ist ein wunderbarer Satz der heutigen Globalisierungsgegner. Sie könnten auch mit Paulus sagen: "Wir wissen doch: Wir haben unsere alte Wertordnung fallen lassen und sind nicht mehr vom Haben abhängig." (Römer 6,6 f.) Es gibt eine Auferstehung aus dem Tod, der uns versklavt. Wir sind frei geworden.

Das Philippus-Evangelium aus der frühchristlichen Literatur drückt dasselbe Wissen von dem, was "Tod" und was "Leben" bedeutet, mit dem verrückt klingenden, aber denk-würdigen Satz aus: "Ein heidnischer Mensch stirbt nicht, denn er hat nie gelebt, dass er sterben könnte." (Schottroff, S. 60) Ist das christliche Arroganz? Wir müssen es im Zusammenhang dessen verstehen, was Paulus über den Tod innerhalb der römischen Sklaverei sagt. Die Sklaverei wird nicht mehr bemerkt, weder die Unterworfenen wissen es, noch die Sklavenbesitzer kümmert es.

Die pax americana hat die pax romana vor allem durch eine bessere Inszenierung und einen besseren Selbstverkauf bei weitem übertroffen. Sie ist indessen selbstverständlich und betrifft in der materiellen Verelendung sowieso nur die anderen. Das ist der Tod, in dem wir heute leben. Das Logion 4 aus dem Philippus-Evangelium fährt fort: "Wer an die Wahrheit geglaubt hat, hat gelebt, und der ist in Gefahr zu sterben." Gehören wir dazu?

In: Dorothee Sölle: Mystik des Todes. Ein Fragment. Stuttgart (Kreuz Verlag) 2003, S. 56-63.

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