Schwäbisches
Tagblatt, 16. Oktober 2003, S. 21
Übrigens ...
Zerstörte
Hoffnungen
Für die Wardanjans begann
der Tag wie gewohnt. Die drei Kinder gingen zur Schule, die Eltern zur
Arbeit. Auch im TübingerAmtsgericht liefen die Geschäfte vergangenen
Dienstag normal. Unter anderem wurde dort der "Beschluss in der Abschiebehaftsache
Rafael Wardanjan" gefasst. Damit war der Weg für die Festnahme
des 40-Jährigen an seinem Arbeitsplatz frei. Die Beamten des Polizeireviers
Tübingen brachten den Familienvater in die Abschiebehaft nach Rottenburg.
Gestern Morgen wurde er nach Reutlingen geschafft. Von dort weiter nach
Frankfurt ins Flugzeug nach Eriwan (siehe auch Seite 24).
Vor sieben Jahren kamen Rafael
Wardanjan und seine Frau Gohar mit ihren Töchtern Naira und Meline
aus Armenien nach Deutschland. Ihr Sohn Artavasd wurde hier geboren. "Wäre
das Kind in Frankreich oder den USA zur Welt gekommen, hätte es die
entsprechende Staatsbürgerschaft und die Familie könnte bleiben",
sagt Rafael Wardanjans Anwalt Viktor Schulz.
Aber die deutschen Gesetze
sind nicht so. Nicht, wenn es sich um das Kind von nur geduldeten Eltern
handelt. Da kann eine Familie noch so gut integriert sein: Die Eltern
mit festem Arbeitsplatz, die Kinder ohne Erinnerung an das Herkunftsland,
vielmehr in Tübingen verwurzelt. Hier, wo die Familie in der Liststraße
wohnt, wo sie Freunde hat und Nachbarn, die sich für sie einsetzen.
Es ist ein typisches Flüchtlingsschicksal,
das hier seinen Lauf nimmt: Asylantrag abgelehnt, danach Duldungen, die
immer wieder verlängert werden und Anwälte, die alle Rechtsmittel
ausschöpfen.
Zuletzt hatte das Verwaltungsgericht
Sigmaringen am 30. September gegen die Wardanjans entschieden. Es war
um die zehnjährige Meline gegangen. Sie ist chronisch nierenkrank.
Für den Anwalt der Familie ein Grund, weder das Mädchen noch
seine Angehörigen nach Armenien abzuschieben. DerAntrag wurde abgelehnt
- trotz eines Gutachtens der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, in
dem festgestellt wird, dass es für Meline nicht möglich sei,
in der Heimat ihrer Eltern "eine kindgerechte und spezialisierte
Behandlung zu erhalten".
Das Gericht bezog sich auf
die Deutsche Botschaft in Eriwan, die offenbar anderer Meinung ist, was
die Gesundheitsversorgung in Armenien betrifft. Für den Tübinger
Oberarzt Oliver Amon, der Meline behandelt, geht indes "kein Weg
daran vorbei, dass dieses Mädchen aus medizinischen Gründen,
um Gefahr für Leib und Leben abzuwenden, weiterhin in Deutschland
von einem Kindernierenspezialisten behandelt werden muss".
Für Meline, Naira, Artavasd
und Gorhan Wardanjan sind die Tickets nach Eriwan noch nicht gebucht.
Die Kinder haben keine Ausweise. Aber laut ihrem Anwalt "kann das
sehr schnell gehen", bis die deutschen Behörden mit Hilfe der
Armenischen Botschaft auch dieses Abschiebehindernis beseitigt haben.
Und übrig bleiben nur zerstörte Hoffnungen.
Uschi Hahn
Schwäbisches
Tagblatt, 16. Oktober 2003, S. 21
Angst
vor der Abschiebung
Nur kurz konnte
Gorhan Wardanjan (Bildmitte) ihren Mann Rafael gestern noch einmal sehen.
Dann schaffte man den Vater von drei Kindern nach Frankfurt und setzte
ihn ins Flugzeug nach Eriwan. Auch die 31?jährige Mutter, die zehnjährige
Meline (links), der sechsjährige Artavasd (rechts) und die zwölfjährige
Naira, müssen nun täglich mit der Abschiebung nach Armenien
rechnen. Dabei ist Meline chronisch krank und kann nach Meinung ihrer
Ärzte in Armenien nicht versorgt werden. "Es geht hier wirklich
um das Leben der Tochter", sagt der Anwalt der Familie, Viktor Schulz.
Auch Nachbarn der in der Tübinger Liststraße wohnenden Wardanjans
und die Martinsgemeinde setzen sich für ein Bleiberecht ein. Bereits
im Dezember vergangenen Jahres gab es eine Unterschriftensammlung mit
der Bitte an die Reutlinger Bezirksstelle für Asyl, "die gesetzlichen
Spielräume zu nutzen". Offenbar vergeblich.
uha / Bild: Mozer
Schwäbisches
Tagblatt, 16. Oktober 2003, S. 21
Nur
zaghafte Anzeichen für ein Umdenken
Interkulturelle
Woche startete mit Podium zur Integration /
Wunsch nach Ausländerbeauftragtem
TÜBINGEN
(hoy). "Ich habe gehofft, dass meine Rechte hier beschützt werden."
Der heute 37-jährige Libanese Ali Jaber hatte sich sein Leben in
der Bundesrepublik Deutschland anders vorgestellt, als er vor elf Jahren
aus dem Südlibanon flüchtete. Seither hangelt er sich ohne gesicherten
Aufenthaltsstatus von einer Duldung zur nächsten. Zum Auftakt der
Interkulturellen Woche sprach er am Dienstagabend erstmals öffentlich
bei der Podiumsdiskussion im Schlatterhaus darüber. Durch die Abschiebung
des Armeniers und Familienvaters Rafael Wardanjan erhielt die Veranstaltung
außerdem eine unvorhersehbare Aktualität (siehe das ÜBRIGENS
und Bildtext unten).
Das Podium zum
Thema "Integrieren statt ignorieren" - moderiert von der Journalistin
Beate Rau - war kompetent besetzt: Die städtische Sozialamtsleiterin
Uta Schwarz-Österreicher hatte Zahlen aus ihrem Amt mitgebracht.
Ebenso Fritz Sperth, Schulleiter der Hauptschule Innenstadt: Rund 40 Prozent
seiner 250 Schüler haben einen ausländischen Pass, die Hälfte
kommt aus einer Familie "mit Migrationshintergrund", und zehn
Prozent haben nur einen Duldungsstatus, können jederzeit abgeschoben
werden. Auch das Sozialamt betreut viele "Fälle" wie Ali
Jaber über zehn Jahre lang -finanziell und mit Beratungen ,.sind
das 80 Prozent, so Uta Schwarz-Osterreicher.
Weitere Podiumsteilnehmer
waren: Ismayil Arslan (Betriebsrat bei Flender und Vorsitzender des Türkischen
Vereins), Ahmad Amini (Ausländerbeauftragter in Sindelfingen), Erika
Kurz (seit elf Jahren im Asyl-Arbeitskreis der Martinskirche) und Margarete
Lanig-Herold (Geschäftsführerin bei Infö).Die Frage, wann
eine Integration von Migranten und Flüchtlingen geglückt ist,
wurde im Verlauf der gut zweistündigen Diskussion vor rund 80 Zuhörern
zunehmend auf die Schlüsselfrage zugespitzt: Ist die Integration
überhaupt politisch gewollt?
Vieles - da waren
sich alle sechs auf dem Podium im Grunde einig - spricht dafür, dass
sie eigentlich unerwünscht ist. Bei Flüchtlingen wie Ali Jaber
auf jeden Fall, denn sonst hätte er "längst einen Aufenthaltsstatus"
bekommen. "Wir brauchen ganz schnell ein Zuwanderungsgesetz",
sagte Amini. Es sei "unerträglich", dass viele Menschen
nach über zehn Jahren in Deutschland "nicht hier bleiben können".
Auch Erika Kurz, die die Familie Wardanjan seit sechs Jahren betreut,
kritisiert: Durch die aktuelle Abschiebung seien "alle Bemühungen
um Integration ins Leere gelaufen". Und Fritz Sperth berichtete von
Schülern, die mit einem abgelehnten Asylantrag zu ihm kommen. Diesen
"völlig unwürdigen Zustand" und die Tatsache, als
Ausländer, "auf das Wohlwollen einzelner Leute in den Behörden
angewiesen zu sein", würde Sperth gerne ändern.
Er würde
seinen ausländischen Schülerinnen und Schülern auch gerne
mehr berufliche Perspektiven bieten können. Außerdem gäbe
"es keine einzige zusätzliche Stunde für Sprachförderung".
Schon "lange ungeregelt" ist die Situation für Sprachanbieter,
berichtete Margarete Lanig-Herold. Es sei oft erst kurzfristig klar, aus
welchem "Topf" für welche Migranten Finanzmittel zur Verfügung
stehen. Für wenig sinnvoll hält es dir Infö-Geschäftsführerin
außerdem, "ganze Familienclans vom Kind bis zum Opa" in
einem Kurs zu unterrichten. Besser wäre vielmehr ein gemischtes Konzept,
wo Aussiedler, Asylbewerber und Ausländer gemeinsam Deutsch lernen
können.
Bei aller Kritik
- auch die Sozialamtsleiterin sieht "Fördernachholbedarf"
an Schulen und Kindergärten sieht Uta Schwarz-Österreicher aber
auf politischer Ebene "doch Anzeichen der Einsicht in die Notwendigkeit,
dass mehr getan werden muss". Sie wertet die 17 Integrationsprojekte
des Landes als Indiz für ein "Umdenken". Dass immer noch
kein Zuwanderungsgesetz verabschiedet ist, brachte einige Zuhörer
im Saal sichtlich auf. Darunter die SPD-Landtagsabgeordnete Rita Haller-Haid.
Sie appellierte an alle, "mehr Druck bei der CDU" zu machen.
Sprachprogramme müssten außerdem "dauerhaft abgesichert
und im normalen Landeshaushalt verankert werden". Auch bei dem Wunsch
nach einem Ausländerbeauftragten in Tübingen waren sich alle
einig. Das Wort Integration, sagte Ismayil Arslan, "kann ich nicht
mehr hören". Es gehe um einen Prozess, an dem alle beteiligt
sind. Ali Jaber hat hier Arbeit und: "Ich verstehe sogar Schwäbisch."
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