Weihnachten 2002
 
 

Tübinger Pressestimmen zum Irak-Krieg

Zum drohenden Irak-Krieg und zum Frieden

Süddeutsche Zeitung
Im Herzen - Von Grass bis Walser: Der Pazifismus ist sprachlos


http://konstantin.wecker.bei.t-online.de/Politisches%20Forum.htm

...und ich begehre, nicht schuld daran zu sein!

Von Konstantin Wecker


"Auferstanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unbekannt,
und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand."

Mit diesen düsteren Worten beginnt das aufwühlende Gedicht "Der Krieg" des früh verstorbenen expressionistischen Dichters Georg Heym. (1887 - 1912)
Er könnte es heute geschrieben haben.

Es wird wieder gezündelt. Gezielt und rücksichtslos. Viele Talkshows, Rundfunk und Fern-sehsendungen entarten mittlerweile zu Werbeveranstaltungen für den Segen des Militarismus. Honorige Politiker streuen zielbewusst Unwahrheiten und Dummheiten in die Runde und sprechen über den Krieg, als ginge es um eine Schachpartie.

Man diskutiert über Strategien und Taktiken, Geopolitik und ökonomische Vor- und Nachteile einer "Intervention", man ereifert sich über Massenvernichtungswaffen in den Händen von Schurken, und natürlich wagt es keiner logisch zu folgern: Da wo die meisten Massenvernichtungswaffen lagern, wird wohl auch der größte Schurke sein. Bush sagte: "Wir werden es nicht dulden, wenn die schlimmsten Waffen der Welt in den Händen eines der schlimmsten Führer der Welt bleiben." Richtig. Schau in den Spiegel, Kumpel. Du bist es - das ist Harold Pinters Antwort auf diese "Selbsterkenntnis" Georg W. Bushs.

Der Mensch im Mittelpunkt?

Man philosophiert wortreich über die Notwendigkeit des Krieges, aber nie spricht einer über Menschen!

Unter den Trümmern jeder Bombe verenden Kinder, auf deren Kosten wir unsere Machtspiele austragen, unsere Ideologien rechtfertigen, unsere Unfähigkeit demonstrieren, zuzuhören, einzusehen, zu verstehen und zu verzeihen.

Nie spricht einer über die Iraker und Amerikaner, die in diesem Krieg sterben werden, Arme und Beine verlieren werden, noch Jahrzehnte später an den Folgen der Verseuchung verrecken, und sich sorgen um das Kostbarste, das einem das Leben mitgegeben hat: ihre Kinder.

Wenn über Tote gesprochen wird, dann in Form von Statistiken. Opfer werden abgewogen. 1000 Iraker gegen einen US- Soldaten oder wie wärs genehm, um in der Heimat keinen Widerstand zu provozieren?

Aber jeder dieser Toten ist doch ein Mensch, mit einem eigenen Schicksal, eigenen Hoffnungen, Träumen, Sehnsüchten, jeder hatte eine Kindheit, jeder hat Familie und keiner will sterben. Kein Lebewesen will sterben, es sei denn man funktionalisiert es als fanatischen Patrioten oder Gotteskrieger.

Solidarität mit Amerika?

Jeder unserer Politiker - welcher Partei auch immer er sein Jawort gegeben hat - weiß, dass es in diesem Krieg gegen den Irak nur um Öl und Macht geht, um die endgültige Kontrolle der Welt und ihrer Bodenschätze und um die Schaffung eines neuen Feindbildes, um einem völlig pervertierten Rüstungswahn Berechtigung zu verleihen.
Keiner hat den Mut, das a

uch nur anzusprechen. Geschweige denn, zu Ende zu denken.
Viele Amerikaner haben diesen Mut, wie zum Beispiel Ramsey Clark, der in einem Brief an die Mitglieder der Vereinten Nationen George Bush bezichtigt, die Vereinigten Staaten in eine weltweite Gesetzlosigkeit endloser Kriege zu führen und die UN und alle anderen Nati-onen dorthin mitzunehmen.

Es gibt ja nicht nur das Amerika des W. Bush und seiner Pentagon-Junta, wie die Bande von Gore Vidal so treffend genannt wird, nein es gibt ja auch das Amerika seiner brillanten und geistreichen Kritiker.

Das Amerika des Morris Berman, Thomas Frank und Howard Zinn, der Susan Sontag, Erika Jong und der Naomi Klein, des Noam Chomsky und Philip Roth, und, nicht zu vergessen, eines Michael Moore, der sich seit einiger Zeit aufmacht, die Regierung im Alleingang aufzumischen.

Mit diesen und so vielen anderen, klar denkenden und kritischen US-Bürgern und Ihrem Amerika habe ich keine Solidaritätsprobleme.

Aber anstatt diese mutigen Apologeten, die fast alle von den amerikanischen Medien als "unpatriotisch" verteufelt und teilweise mit Berufsverbot bestraft werden, zu unterstützen, haben sich unsere Politiker einen Maulkorb auferlegt. Lediglich aus vorauseilendem Gehor-sam und aus Angst, dem großen Bruder die Solidarität zu seinen Vernichtungsorgien zu verweigern.

Kein SPD Politiker, kein Grüner kann mit dieser konzerngesteuerten Marionette an der Spit-ze der mächtigsten Nation der Erde einverstanden sein. Aber alle fangen an infantil zu grinsen, wenn er ihnen ein wohldosiertes, gönnerisches Lächeln schenkt.

Warum fragen wir unsere bundesdeutschen Kriegstreiber nicht einmal, ob sie denn selbst bereit wären, in den Krieg zu ziehen, ihre Kinder zu opfern?

Weshalb verdorrt ihnen nicht die Zunge in ihren Schandmäulern, wenn sie andere Menschen für ihre kranken Vorstellungen mit einem Achselzucken ins Verderben stürzen?

Beweggründe des Terrors

Muss ich jetzt noch erklären, dass Terror gegen Menschen in keinem Fall meine Zustimmung findet?

"Jedes einzelne Menschenleben ist kostbarer als die Befreiung der ganzen Menschheit", schreibt Jean-Jacques Rousseau, wohl wissend um den Wahn der Mächtigen und der Machtgierigen, ihr Morden stets als Kampf für die Freiheit zu tarnen.

Aber nur wenn man die Täter zu verstehen lernt, kann man weitere Opfer vermeiden.

Die offiziellen Beweggründe des wirtschaftlichen und staatlichen Terrors gegen die so ge-nannte dritte Welt sind natürlich der Schutz der Menschenrechte oder der Freiheit. Dahinter steht aber in Wirklichkeit, wie jedem denkenden und selbstkritischen Menschen bekannt: seelische Verödung und die Unfähigkeit mitzufühlen, auf Grund von Identifizierung mit autoritä-ren Strukturen. Gehirnwäsche durch Werbung und TV Sendungen für unkritische Konsumenten, oft verdummenden Schwachsinns, tun ihr Übriges. Das führt zu einer Gier nach materiellen Gütern, die nie das ersetzen können, wessen wir verlustig sind, so dass unsere Gier nie befriedigt werden kann. Ruhm und Macht müssen dann eine innere Leere ausfüllen, aber wir werden niemals damit unser eigenes Selbst berühren.

Henry Kissinger hat in seiner Dissertation in den fünfziger Jahren geschrieben, es sei das Charakteristikum einer unstabilen oder, wie er es nannte, einer revolutionären Nation, dass sie sich ständig akut bedroht fühle: "nur die absolute Sicherheit - die Neutralisierung des Gegners - wird als ausreichende Maßnahme akzeptiert, folglich bedeutet das Streben dieser einen Macht nach absoluter Sicherheit die absolute Unsicherheit für alle anderen." Diese Beschreibung trifft ziemlich exakt auf die Supermacht USA zu, auf ihre Hysterie an der Heimatfront, ihre Missachtung internationaler Verträge und Institutionen, ihre Rechtfertigung des präventi-ven Erstschlags, sogar mit Atomwaffen. Das ist eine wunderbare Sache für die Waffenlieferanten, aber nicht so gut für den Rest der Welt. (Lotta Suter in WoZ online)

Die Beweggründe der Terroristen hat Eugen Drewermann treffend zusammengefasst:

"Im ganzen 20. Jahrhundert hat es in den Ländern der heutigen Dritten Welt unter dem Imperialismus der westlichen Staaten keine Freiheitsbewegung gegeben, nur eine lange Phase des-sen, was wir "Guerilla" oder "Terror" nennen. Terrorismus ist also in der Asymmetrie der Kriegsführung die Waffe der Unterlegenen. Er ist eine Ersatzsprache für Zielsetzungen und Forderungen, die allzu lange überhört wurden. Ein weiterer Grund für den Terror ist die sich gebärdende westliche Arroganz im Kulturgefälle, wenn man so will, die narzisstische Krän-kung eines riesigen Kulturraums. Wir bräuchten sehr viel mehr Fingerspitzengefühl und mehr Verständnis für die andere Seite und wir müssten abrücken von absurden Feindbildern."

Warum haben gerade wir Deutschen nicht endgültig die Schnauze voll von diesen absurden Feindbildern? Und sollten nicht gerade diejenigen, die völlig zu Recht die schmutzige und verbrecherische Idee einer jüdischen Weltverschwörung in den Bereich der Geisteskrankheiten verweisen, sich hüten vor dem Mythos einer islamistischen Weltverschwörung?

Menschlichkeit und Mitgefühl

Wie wichtig muss einem die eigene Position, das festgefahrene Weltbild, der eigene Wohlstand sein, um alle Gesetze der Menschlichkeit und des Mitfühlens über Bord zu schmeißen und Kriege zu fordern, wo Güte und Hilfe das einzig mögliche Mittel wären?

Kann denn wirklich die eigene politische Zukunft entscheidender sein als das Elend von Millionen von Menschen?

"Das Blut versickerte im Boden, die Ratten, die in den Schützengräben lebten, fraßen das Gehirn, das aus dem offenen Schädel quoll, der Bauch war aufgeschwollen und diente einer ganzen Generation von Schmeißfliegen als Brutstätte, das Ganze, das unzerstörbare Skelett, die Fetzen getrockneter Eingeweide und Haut, in Khaki gewickelt."

Das schrieb Dos Passos in seinem Roman 1919 und einzig solche Sätze sind dem Thema angemessen.

Warum höre ich sie kein einziges Mal im Bundestag? Warum beschränkt sich das auf Thea-teraufführungen und Friedenskundgebungen?

Weil es im Bundestag nichts zu suchen hat? Was bitte hat im Bundestag etwas zu suchen wenn nicht die Belange der Menschen, ihr Leben, ihr Leiden, ihre Hoffnung, ihre Wut?

Da wird abgelenkt mit Steuerprozent und Streitigkeiten um so genannte "Neidsteuer", da erregt man sich über die "Stigmatisierung" der Superreichen, während in dem Land, das jetzt, vermutlich auch mit unserer Hilfe, vernichtet werden soll, 49% der Familien nicht genug Geld haben, um für ihre Grundbedürfnisse aufzukommen.

"Wenn wir nicht schnell was tun, wird der Irak abgeschlachtet," so Scott Ritter, ein ehemaliger UN-Waffeninspekteur.

Wir feiern uns selbst in Spendenshows für kranke Kinder und sind nicht mutig genug in einer dieser Fernsehshows das auszusprechen, was das Wichtigste wäre für alle Kinder dieser Welt: Nie wieder Krieg!

Oder sind deutsche Kinder doch bessere Kinder als irakische Kinder? Besser als Kinder von Eltern, die in einem Schurkenstaat geboren sind.

Mit dem Frieden anfangen

"Wir wollen Eure Kriege nicht, wir sind es leid!
Wir wissen schon zu viel, um noch zu schweigen.
Es ist jetzt allerhöchste Zeit
Sich zu bekennen und Gesicht zu zeigen."

Ja, ich weiß, auch die Bellizisten reden von Frieden, von dem Frieden nach dem großen Schlachten, dem finalen Frieden nach dem Krieg.

Aber Frieden ist nicht der Zustand zwischen zwei Kriegen.
Wer Frieden will, muss mit dem Frieden anfangen, sagt Gandhi.

" Der Krieg bringt die Welt nicht vorwärts, er schiebt nur auf, wirft nur den Leidenschaften vorübergehend neue Ziele hin, und nachher, früh oder spät, wird die soziale Not wieder daste-hen, groß und furchtbar wie nie zuvor," schreibt Hermann Hesse, und weiter: "wenn ein Ge-neral einmal einen Moment beim Verdauen nachdenklich wird, so stellt sich ihm zur Verherrlichung seines Tuns gleich die ganze falsche Pracht der Geschichtsphilosophie zur Verfügung. ...Ich bin weit von aller Geschichtsphilosophie abgerückt und hüte mich im Einzelnen den Kriegen und anderen Gräueln einen Sinn zu geben. Aber ich glaube nach wie vor an den Menschen und dass er aus allen Verzerrungen der Rückkehr zur Vernunft und Güte fähig ist."

Respektieren statt demütigen

Kriege werden geführt von Menschen, denen sie Vorteil bringen.
Entweder direkten Geldgewinn oder Gewinn an Ansehen und Macht.

Eine "großindustrielle Oligarchie" (Robert Kaplan) die sich ein "demokratisches Mäntelchen umhängt" und unsere Medien wie Marionetten in ihrem Interesse tanzen lässt, entmündigt uns immer mehr und versucht ihre Kriege als humanitäre Aktionen zu verkaufen.

Und wir sollen glauben, dass dies alles vernünftig sei, weil es uns von anscheinend besonnenen, hochrangigen Männern verkauft wird.
Aber man ist nun mal nicht automatisch vernünftiger, weil man von Frau Christiansen oder Herrn Kerner eingeladen wird und vorfabrizierte Sprüche mit autoritärem Gehabe verbreitet. Die Vernunft und vor allem das Mitgefühl sind doch bei den meisten auf dem langen Karrieremarsch durch die Institutionen auf der Strecke geblieben.

Es gibt Politiker, die verkaufen uns die Massenvernichtungswaffen im Irak mit einer Gewissheit, als hätten sie dort am Bau von Atombomben selbst mitgewirkt.

Jeder Mensch hat ein Anrecht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eige-ne Fakten - und hier werden Fakten verfälscht, um einen Krieg zu beginnen.

Wie Hans von Sponeck (langjähriges UN-Mitglied) in einem beeindruckenden Vortrag sagte, ist Hussein natürlich ein Diktator, der sein Volk knechtet. Aber weshalb sollen wir nun dieses geschundene Volk auch noch endgültig vernichten?

Jeder der den Irak besucht hat, ist beeindruckt von der Freundschaft und Offenheit der Men-schen, von ihrer Gastfreundschaft und ihrer Kultur.

Wie würden diese Menschen uns lieben, wenn wir, anstatt sie mit Uran angereicherten Bom-ben zu überschütten, mit Lebensmitteln und Medikamenten überschütten würden? Wenn wir nach Lösungen suchen würden, wie langfristig ihre Eigenkräfte unterstützt werden können?

Wenn wir sie respektieren würden, statt sie zu demütigen?

(Günter Wimmer vom Münchner Friedensbündnis mailte mir am 18.12. diesen Nachsatz: Zur Problematik unserer Begriffe - mit uran-angereicherten Bomben verstärken und vervielfälti-gen wir die ohnehin unbeschreibliche Armut! Diese uranhaltigen, heimtückischen, weil nicht "nur" besonders durchschlagkräftigen und explosiv-zerstörerischen, sondern zusätzlich langwirkend krankmachenden Bomben, sind buchstäblich schmutzige Abfallprodukte, die wir für die Anderen zynisch übrig haben)

ultima irratio

Und nun wird wieder Hitler mit Hitler besiegt, wie Gandhi sagt, wenn es heißt, die Pazifisten seien der Grund für die Erstarkung der Nazimassenmörder gewesen.

Und verantwortungslos gegenüber den Opfern des dritten Reiches, wird Auschwitz immer zum Vergleich herangezogen, wenn man einen Grund für einen Kriegseintritt braucht.

Aber die Klügeren unter den Bellizisten wissen, dass das Problem in den dreißiger Jahren nicht der Pazifismus in Deutschland, sondern das Appeasement der Westmächte war - also deren wohlwollende Stillhaltepolitik gegenüber Nazi-Deutschland, wie Jürgen Elsässer richtig bemerkt.

Ich glaube, wir sollten aus der Geschichte lernen, sie aber nicht wiederholen.
Was irgendwann einmal die ultima ratio war, ist heute schon die ultima irratio.
Und vor allem darf man eines nie vergessen: Unsere Kriege der letzten Jahre (Jugoslawien, Afghanistan) waren allesamt völkerrechtswidrige, imperialistische Angriffskriege, und das wird auch bei dem Krieg gegen den Irak nicht anders sein, wenn wir ihn nicht doch noch verhindern können.

Die USA nutzen die UNO zu ihrem Vorteil und hebeln sie aus für ihre eigenen wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen. Sie haben alle internationalen Vereinbarungen und gül-tigen Standards gebrochen und jeder, der sich an ihren Kriegen beteiligt, beteiligt sich an ei-nem Massenmord.

Krieg und Spaßkultur

Warum nur treibt es so wenige auf die Straße, um wutentbrannt gegen diesen Wahnsinn zu demonstrieren?

Warum versteckt man sich hinter Partys und schwachsinnigen Fernsehsendungen, hinter Al-bernheit und eitlem Zynismus, jetzt, an diesem Wendepunkt der Geschichte?

Sind wir wahrhaftig, wie Horkheimer und Adorno es prophezeiten, als Konsumenten zur I-deologie der Vergnügungsindustrie geworden, deren Institutionen wir nicht mehr entrinnen können?

Sind wir dabei, wieder in ein dunkles, absolutistisches Zeitalter zu tauchen, ein theologisches, nun in der Kirche des totalen Marktes?

Haben wir schon keine Distanz mehr zur kommerziellen Kultur und ihrer Indoktrination, da wir kein Leben und kein Bewusstsein haben, das von ihr distanziert wäre?

Ist man deshalb so hoch angesehen wenn man sich für sich selbst, seinen Wohlstand, seine Karriere und seinen Spaß engagiert, und wird man deshalb so verlacht, wenn man sich für eine gerechtere Welt einsetzt?

War das der Hintergrund der fatalen Verbalinjurie vom "Gutmenschen"? Ein Sieg auf der ganzen Linie für die Erfolgsgetreuen, Karrieristen, Trendigen!
Ein Sieg für die Ellenbogentypen und Spaßideologen.


Poesie ist weiser als Politik

Permanenter Krieg und permanenter Spaß - gehört das zusammen?
Ich plädiere für eine Kultur der Ernsthaftigkeit wider den zwanghaften Spaß, sonst schaffen wir in uns nie mehr einen verkaufsfreien Raum, ohne den Denken einfach nicht mehr möglich ist.

Ein Raum ohne Einflüsterung durch Moden und Gags, Trends und PR, Gedudel und Small-talk, Steuererlässe und Zuschauerquoten. Einen Raum der Stille, des Alleinseins, in dem wir uns wieder selbst begegnen, mit all unseren Brüchen und unserer Verletzbarkeit, unserer Sehnsucht nach Liebe und Frieden, unserem Zuhausesein in dieser Welt, unserer Verbindung zu allem was lebt und zu der existenziellen Freude, die hinter den Fassaden unseren wirkli-chen Seins immer verborgen bleibt.

Wirkliche Freude und ehrliches Lachen werden nur aus der Ernsthaftigkeit geboren und nie aus einem oberflächlichen, ferngesteuertem Leben.

Lasst uns keine Menschen und auch nicht mehr unsere Zeit totschlagen.

Lasst uns bekennen: für das Leben und gegen den Krieg.
Immer schon war die Poesie weiser als die Politik.

Vielleicht bräuchten wir Poeten als Vertreter unserer Belange im Parlament - einen wie Matthias Claudius, der nach 250 Jahren wieder auferstehen und uns sein "Kriegslied" in die Herzen singen möge:

's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
...Und rede du darein!
's ist leider Krieg - und ich begehre
...Nicht schuld daran zu sein!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
...Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
...Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
...Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten, und mir fluchten
...In ihrer Todesnot?
Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
...So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
...Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch' und ihre Nöten
...Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
...Von einer Leich herab?
Was hülf mir Kron' und Land und Gold und Ehre?
...Die könnten mich nicht freun!
's ist leider Krieg - und ich begehre
...Nicht schuld daran zu sein!

 

 

SPIEGEL ONLINE - 16. Januar 2003, 10:43
URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,230941,00.html

Grass-Essay im Wortlaut

"Zwischen den Kriegen"

In seinem Beitrag für die Nachrichtenagentur dpa kritisiert Günter Grass die heuchlerische Irak-Politik der USA und ihrer Verbündeten. Den drohenden Krieg bezeichnet er als "gewollt", es gehe "wiederum ums Öl". SPIEGEL ONLINE dokumentiert den Essay des Literaturnobelpreisträgers.

"Das vergebliche Warnen vor drohender Kriegsgefahr gerinnt mittlerweile zur Routine; und dennoch gilt weiterhin zählebig, was Matthias Claudius zu seiner Zeit reimte:

"'s ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
's ist leider Krieg - und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!"


Viele Ausrufzeichen stützen die erste Strophe dieses Gedichtes, dem die Vergeblichkeit seiner Warnung Dauer garantiert hat. Deshalb, weil es so viele Schlachten überdauert hat, setze ich es an den Anfang meiner Warnung - "Und rede Du darein!" -, die als Dreinrede, wie ich befürchte, überhört werden wird.

Krieg droht. Wieder einmal droht Krieg. Oder wird nur mit Krieg gedroht, damit es nicht zum Krieg kommt? Bedeutet das einschränkende Wort "nur", daß der seit Wochen auf der Arabischen Halbinsel und im Roten Meer inszenierte Aufmarsch nordamerikanischer und englischer Truppen und Flottenverbände, der die Medien mit Bildern militärischer Überlegenheit füttert, eine bloße Drohgebärde ist, die schließlich - sobald der eine von zwei Dutzend weltweit herrschenden Diktatoren sich ins Exil verkrümelt hat oder wünschenswert tot ist - als friedenssichernde Machtdemonstration verbucht und abgeblasen werden kann?

Wohl kaum. Dieser drohende Krieg ist gewollt. In planenden Köpfen, auf den Börsen aller Kontinente, in wie vordatierten Fernsehprogrammen findet er bereits statt. Der Feind als Zielobjekt ist erkannt, benannt und eignet sich, neben anderen noch zu erkennenden und benennenden Feinden auf Vorrat, für die Beschwörung einer Gefahr, die alle Bedenken nivelliert. Wir kennen die Machart, nach der man sich einen Feind, sollte er fehlen, erfindet. Bekannt ist gleichfalls jene bildgesättigte Spielart des Krieges, nach der zielgenau daneben getroffen wird. Geläufig sind uns die Wörter für Schäden und Verluste an Menschenleben, die als unvermeidbar hinzunehmen sind. Es ist uns üblich geworden, daß nur die relativ wenigen Toten der herrschenden Weltmacht gezählt und betrauert werden, während die Masse der toten Feinde samt deren Frauen und Kindern ungezählt bleibt und keiner Trauer wert ist.

Also warten wir auf den Wiederholungsfall. Diesmal sollen neue Raketensysteme noch genauer danebentreffen. Ein uns als Bildauswahl vertrauter Krieg droht. Weil wir seine vom detaillierten Schrecken gesäuberte Bilderflut kennen und auch die Fernsehrechte an den uns bekannten Sender der drei abkürzenden Buchstaben vergeben sind, erwarten wir eine Fortsetzung des Krieges als Seifenoper, unterbrochen nur von Werbespots für friedliche Konsumenten. Am Rande geht es zur Zeit allenfalls darum, wer beim schon stattfindenden kommenden Krieg lautstark oder halbherzig mitmacht oder nur ein bißchen dabei sein mag, wie die Deutschen, denen zwangsläufig das Kriegführen vergangen ist oder sein sollte.

Gegen wen wird dieser Krieg, der so tut, als drohe er nur, geführt? Es heißt: Gegen einen schrecklichen Diktator. Aber Saddam Hussein war, wie andere Diktatoren auch, einst Waffenbruder der demokratischen Weltmacht und ihrer Verbündeten. Stellvertretend - und mit Hilfe des Westens hochgerüstet - führte der Irak acht Jahre lang Krieg gegen den Iran, weil im Nachbarland des Diktators ein Diktator herrschte, der dazumal Feind Nummer eins war.

Aber, heißt es weiter, Saddam Hussein verfügt - was nicht bewiesen ist - mittlerweile über Massenvernichtungsmittel. Das sagt der Westen, der - was zu beweisen wäre - über Massenvernichtungsmittel verfügt. Zudem wird versprochen: Nach dem Sieg über den Diktator und sein System soll im Irak die Demokratie eingeführt werden. Doch die dem Diktator benachbarten Länder Saudiarabien und Kuwait, die dem Westen verbündet sind und ihm als militärische Aufmarschbasis dienen, werden gleichfalls diktatorisch beherrscht. Sollen diese Länder Ziel der nächsten demokratiefördernden Kriege sein?

Ich weiß, diese Fragen sind müßig; die Arroganz der Weltmacht gibt Antwort auf jede. Doch jederman kann wissen oder ahnen, daß es ums Öl geht. Oder genauer: Es geht wiederum ums Öl. Das Gespinst der Heuchelei, mit dem die zuletzt verbliebene Großmacht und der Chor ihrer Verbündeten ihre Interessen zu verdecken pflegen, ist im Laufe der Zeit so verschlissen, daß sich das Herrschaftsgefüge nackt zeigt; schamlos stellt es sich dar und gemeingefährlich in seiner Hybris. Der gegenwärtige Präsident der USA gibt dieser Gemeingefährlichkeit Ausdruck.

Ich weiß nicht, ob die Vereinten Nationen standhaft genug sind, dem geballten Machtwillen der Vereinigten Staaten von Amerika zu widerstehen. Meine Erfahrung sagt mir, daß diesem gewollten Krieg weitere Kriege aus gleichem Antrieb folgen werden. Ich hoffe, daß die Bürger und die Regierung meines Landes unter Beweis stellen werden, daß wir Deutschen aus selbstverschuldeten Kriegen gelernt haben und deshalb Nein sagen zu dem fortwirkenden Wahnsinn, Krieg genannt.

"Was sollt' ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?"


Diese Frage stellt die zweite Strophe des Gedichtes "Kriegslied" von Matthias Claudius. Eine Frage, die wir im Rückblick auf unsere Kriege und deren "Erschlagne" bis heute nicht gültig beantwortet haben. Jener ferne, drohende Krieg, der bereits stattfindet, der nie aufgehört hat, stellt sie uns abermals.

"'s ist leider Krieg - und ich begehre
nicht schuld daran zu sein.""


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