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20. Januar 2003
http://www.sueddeutsche.de/aktuell/sz/getArticleSZ.php?artikel=artikel2551.php
Im Herzen
Von Grass bis Walser: Der Pazifismus ist sprachlos
Das "Kriegslied"
von Matthias Claudius ist unversehens zum Leittext der deutschen Opposition
gegen einen möglichen amerikanischen Irak- Angriff geworden. Nicht
nur Günter Grass hat sich in seinem pompösen Text für
die dpa darauf berufen, sondern zuvor schon der Liedermacher Konstantin
Wecker, der jüngst vor laufenden Kameras ein Kinderkrankenhaus
in Bagdad besuchte - und zumindest in diesem Punkt also die Zusammenarbeit
mit den offiziellen irakischen Stellen nicht verschmähte. Das Zitat
des Claudius- Liedes beantwortet auch die Frage, die Wecker auf seiner
Internet-Seite stellt: "Warum nur treibt es so wenige auf die Straße,
um gegen diesen Wahnsinn zu protestieren?" Mit Matthias Claudius
gegen Amerika: Das bedeutet, dass der Pazifismus in Deutschland nicht
mehr kämpfen muss. Er ist selbst im konservativ schlagenden Herzen
der Gesellschaft angekommen. Auch wenn es an diesem Wochenende große
Kundgebungen gab: Es ist nicht nötig, gegen Krieg zu demonstrieren,
weil die überwältigende Mehrheit schon gegen ihn ist.
Deutschland ist, wie Helmut
Kohl es mit seiner Europa-Politik projektierte, "nur noch von Freunden
umgeben". Anders als 1991, beim ersten amerikanischen Golfkrieg,
liegt mittler-weile auch der Kalte Krieg lange genug zurück, um
jeden habituellen Bellizismus ersterben zu lassen. Deutschland hat sich
zwar an militärische Operationen gewöhnt, doch wurden sie
unter dem Signum von Polizeiaktion, humanitärer Hilfe und Völkerrecht
eingeleitet. In Pristina gibt die Bundeswehr den ehrlichsten aller Makler,
in Kabul steht sie an der Spitze der Beliebtheitsskala. Die rot-grüne
Regierung hat es bisher mit Umsicht geschafft, die ersten militärischen
Engagements Deutschlands nach dem Krieg mit dem untergründig anwachsenden
pazifistischen Grundstrom der deutschen Gesellschaft zu versöhnen.
Wie stark der inzwischen
ist, haben die Bundestagswahlen und der Erfolg von Schröders "Nein"
zum Irak-Krieg gezeigt, und die bevorstehenden Landtagswahlen werden
es vielleicht noch einmal erweisen. Die Front der Kriegsgegner reicht
nun von Friedrich Schorlemmer im Neuen Deutschland bis zu den deutschen
Bischöfen. Ob Kampfhandlungen des Irak gegen Israel sie, wie 1991
geschehen, wieder aufbrechen lassen würden, ist zweifelhaft. Denn
der neue Pazifismus kommt nicht nur ohne Demonstrationen aus, sondern
weitgehend auch ohne Argumente. "Es geht wiederum ums Öl",
wissen Grass und Wecker. Martin Walser hat in einem Gespräch mit
dem Mannheimer Morgen eben dazu aufgerufen, den "Machtausübungsanspruch
Amerikas" zu bremsen und hofft: "In der Antwort auf diese
Provokation wird Euro-pa zum ersten Mal politisch handeln." Eine
subtilere Version dieses amerika-kritischen Arguments brachte Jürgen
Habermas in einem Interview mit The Nation: Die amerikanischen und britischen
Befürworter des Krieges "verharrten in der Tradition ihres
liberalen Nationalismus. Sie appellierten nicht an Grundsätze einer
künftigen kosmopolitischen Ordnung, sondern begnügten sich
mit der Forderung, für den universalistischen Kern ihrer nationalen
Wer-te die weltweite Anerkennung durchzusetzen."
Im liberalen Mainstream
Das ist immerhin ein Argument. Intelligente amerikanische Propagandisten
wie Jeffrey Gedmin wenden es positiv: In Irak solle nach dem Sieg "die
erste arabische Demokratie" entstehen - ein Ziel, das einen hohen
Einsatz wert sei. Es ist unwahrscheinlich, dass Gedmin die Leserschaft
der taz, wo er sich am Samstag in einem offenen Brief an Norman Birnbaum
äußerte, überzeugen wird - ebenso wenig übrigens
wie ein konservatives Publikum, das wie Peter Gauweiler fragt, wer Recht
habe: der Papst oder George Bush. Auch das gehört zum Bild der
geistigen Lage: Eine päpstliche Neujahrsansprache wurde zu einem
intellektuellen Ereignis, das in den liberalen Mainstream der Gesellschaft
hineinwirkt.
Das Bild wird erst vollständig,
wenn man zwei andere Diskussionen einzeichnet: die Türkei-Debatte
und die fulminante Rezeption von Jörg Friedrichs Buch "Der
Brand" über den alliierten Luftkrieg gegen Deutschland. Die
Frage, ob die Türkei in die EU solle, wird kulturalis-tisch geführt
- gerade von konservativer sozialdemokratischer Seite. Es geht im Kern
um an-geblich unvereinbare religiös definierte Identitäten.
Unterdessen erwägt die Union, einen plebiszitären Europa-Wahlkampf
gegen den Beitritt der Türkei zu führen - die Türkei-Gegner
erfreuen sich einer ähnlichen Umfrage-Mehrheit wie die Kriegsgegner.
Der kulturalistische Zug der Türkei-Diskussion passt zur Neigung,
den amerikanisch-britischen Demokratie-Optimismus für den Nahen
Osten als Propaganda zu sehen.
Friedrichs Buch hat an die mentalitätsgeschichtliche Quelle des
deutschen Mainstream-Pazifismus gerührt: an die Wehrlosigkeitserfahrung
gegenüber englischen und amerikani-schen Bomberangriffen. Diese
haben den westlichen Universalismus hierzulande vielleicht nachhaltiger
diskreditiert als bisher bewusst war. Friedrichs öffentliche Lesungen
gleichen erschütternden Hochämtern des Gedenkens und Mitleidens.
Zwischen "Brand" und Papst, zwischen Amerika-Skepsis und Türkei-Furcht
bewegt sich ein Geist, der mit Matthias Claudius "begehrt, nicht
schuld daran zu sein".
Das aber heißt: Die politische Diskussion über den Krieg
müsste erst noch beginnen.
GUSTAV SEIBT
Lesen
Sie dazu aus dem Schwäbischen Tagblatt vom 21. Januar
Le Monde 21/1/2003
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