Weihnachten 2002
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Adeste
fideles?
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Schwäbisches
Tagblatt vom
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In der Ausgabe vom 28. 12. 2002 des Schwäbischen Tagblatts stehen folgende Texte zur "Weihnachts-Abschiebung" der Familie Jashari in Kusterdingen: Löst Empörung ausBoris Palmer verlangt Klarheit über AbschiebungTÜBINGEN (ran). "Kein noch so korrektes rechtsstaatliches Verfahren kann der unvermeidlichen Traumatisierung der Kinder der Jasharis Legitimität verleihen." Das schreibt Boris Palmer an Landes-Innenminister Thomas Schäuble (CDU). Der Grünen-Landtagsabgeordnete verlangt Aufklärung über die Abschiebung. Die Familie Jashari - Eltern und drei Kinder im Alter von acht Jahren, fünf Jahren und zweieinhalb Monaten - wurde in der Nacht zum 17. Dezember um 2 Uhr aus ihrer Kusterdinger Wohnung abgeholt und in den Kosovo ausgeflogen (wir berichteten). "Die Umstände der Abschiebung haben bei vielen Menschen im Kreis Tübingen Empörung ausgelöst", heißt es in Boris Palmers Brief an den Innenminister. Ein solches Vorgehen entwerte "die große humanitäre Leistung" des Landes bei der Aufnahme von BalkankriegsFlüchtlingen nachträglich. Der Grünen-Abgeordnete richtet eine Reihe von Fragen an Schäuble und pocht "trotz der christlichen Feiertage auf rasche Klärung der Sachverhalte". So will er wissen, ob es zutrifft, dass beide Eltern seit drei Jahren berufstätig waren, keine Sozialleistungen bezogen und den Stichtag für den Erwerb einer Aufenthaltserlaubnis nach der Altfallregelung nur knapp verfehlten. Des weiteren fragt Palmer, ob die Behörden Grund zu der Annahme hatten, dass die Familie nicht wie zugesagt ausreisen würde, wenn das Neugeborene groß genug ist, und ebenso, weshalb noch zwei Tage vor der Abschiebung die Duldung bis Ende März verlängert wurde. Eine aufschlussreiche Antwort
über die Abschiebepraxis des Landes kann man sich auf die Frage
erhoffen, ob zur Leistungsbewertung der Bezirksstellen für Asyl
Vergleichszahlen der erfolgreichen Abschiebungen erhoben werden. Und
ebenfalls davon, wie hoch die Kosten für die Abschiebung der Familie
Jashari waren. Zuletzt erkundigt sich Palmer noch, ob es zutrifft, dass
das UN-Flüchtlingskommissariat wegen der instabilen Lage im Kosovo
vor einer zu hohen Zahl von Rückführungen gerade im Winter
gewarnt hat - und das Land Baden-Württemberg wegen Missachtung
dieser Warnung eine Rüge erteilt bekam.
LeserbriefeIn der Nacht zum 17. Dezember war in Kusterdingen eine Familie von Zuhause abgeholt und mit einem Kleinkind in den Kosovo abgeschoben worden."Schande" Ich kenne die Familie Jashari
nicht. Ich weiß nicht, ob es stimmt, dass die Eltern ihre freiwillige
Ausreise längst zugesagt hatten. Ich kann auch nicht ermessen,
ob eine Duldung Ende März einer Abschiebung im Dezember entgegensteht.
Überhaupt: Ich kann nicht im Geringsten beurteilen, ob die Abschiebung
vorschriftsgemäß war; es ist mir - ehrlich gesagt - auch
vollkommen gleichgültig. Denn egal wie sich die Rechtslage darstellt:
Es kann nicht richtig sein, eine Familie mit drei Kindern nachts aus
den Betten zu holen, um sie aus dem Land zu schaffen. Man braucht weder
die deutsche Vergangenheit noch die Adventszeit zu bemühen, um
das als Schande zu empfinden. Jochen Laun, Tübingen, Albrechtstraße 34 "Willkürlich und unmenschlich" Als nach dem Zweiten Weltkrieg Geborene kenne ich die Arbeitsweise der Gestapo nur aus dem Unterricht und der Literatur. Es hat mir als Kind und als Jugendliche trotzdem große Angst gemacht. Als ich nun den Bericht von der Abschiebung der Familie Jashari las, war mein erster Gedanke: So muss es damals gewesen sein. Das sind Gestapo-Methoden. Immer knapp am Gesetzestext entlang - denn Gesetze gab es auch damals -, aber gnadenlos, unbarmherzig, willkürlich und unmenschlich. Und komme mir niemand mit dem Begriff "legal"! Auch im Rahmen der Legalität gibt es jede Menge Nischen der Menschlichkeit, im Behördendeutsch "Ermessensspielraum" genannt. Man hätte diese Akte
einige wenige Tage auf die Seite schieben können, wenn man nur
gewollt hätte. Daran wäre unser Rechtsstaat nicht zu Grunde
gegangen. Und auch die Ausrede "Präzedenzfall" lasse
ich nicht gelten. Hinter jedem "Fall" steht ein menschliches
Schicksal, mit dem es, eines Rechtsstaates würdig, sorgsam und
verantwortungsbewusst umzugehen gilt. Dem/Derjenigen, der/die diesen
Stempel gesetzt hat, wünsche ich ein frohes, zufriedenes Weihnachtsfest.
Er/Sie ist in historischer Gesellschaft, sogar mehrmals! Anita Kummer, Tübingen, Helmut-von-Glasenapp-Straße 5 "Eine große Scham" Eine solche Abschiebepraxis erinnert schon sehr an das Deutschland vor 60 Jahren. Diejenigen, die diese geplant, beziehungsweise durchgeführt haben, brauchen dieses Jahr zur Weihnachtszeit sicher kein Krippenspiel zur Veranschaulichung der notvollen Situation der Heiligen Familie. Haben sie doch eine solche (sogar auf die moderne Zeit umgemünzt) selbst geplant und durchgeführt, somit um ein vielfaches realitätsnaher als jegliches Krippenspiel sein könnte, mitbekommen. Da muss man schon bar jeglichen Mitleides sein, dass man eine fünfköpfige Familie, Besonders mit Mutter und zweimonatigem Säugling im eisigen Winter in ein kaltes Land und ungewisse Zukunft abschiebt. Angesichts solcher Praktiken
beschleicht mich doch eine komische Beklommenheit, wenn ich am Abend
meine etwas ängstliche Tochter tröste, dass Deutschland ein
relativ sicheres Land sei und sie keine Angst haben brauche vor jeglichem
Unbill, damit sie doch sanft in den Schlaf hinübergleiten solle.
Im Anblick auf solche Grausamkeiten (beachte man auch die Verlängerung
der Duldung bis März) befällt mich doch eine große Scham
über unser Land. Gabriele Ortner, Dettenhausen, Eckbergstraße 4 "Unseres Staates nicht würdig" Welcher Mensch hat angeordnet,
dass Menschen nachts um 2 Uhr aus ihren Betten geholt werden, um sie
"abzuschieben", ohne Möglichkeit zu packen, ohne Möglichkeit
sich zu verabschieden? Dies ist unmenschlich, verletzt
die Würde der "abgeholten" Menschen und ist unseres Staates
nicht würdig. Es sei übliche Praxis, entspreche den Verordnungen
und Gesetzen. Es ist auch nicht das erste Mal, dass wir davon in der
Zeitung lesen. Und doch zeigt dieser Vorfall wieder, so ist es nicht
in Ordnung, selbst wenn es legal ist. Man denkt vielleicht beim
Zeitungslesen, schon wieder! Man ist aber in stärkerem Maße
betroffen, wenn es das Mädchen aus der Nachbarschaft ist, das man
kennt, weil es hier aufgewachsen ist, und wenn man weiß, dieses
Mädchen sitzt nun der in Kälte, weint den ganzen Tag und kann
es nicht verstehen. Wer übernimmt die Verantwortung dafür,
dass ein Kind mit unserem Staat eine solche Erfahrung machen muss? Beate Baumann, Kusterdingen, Lustnauer Straße 44 "Erfüllungsgehilfen" Was für Signale werden
eigentlich an Neonazis und Konsorten durch diese nächtlichen Abschiebungen
(Kusterdingen ist ja kein Einzelfall) ausgesendet? Vielleicht, dass
sie ruhig schon mal im Vorfeld aufräumen dürfen. Wie ist es
eigentlich um das Berufsethos all derer bestellt, die an dieser niederträchtigen
Aktion beteiligt waren? Angefangen von ganz oben bis zu den letzten
Bütteln, die diese Drecksarbeit übernehmen "mussten".
Warum weigert sich niemand, an diesen Nacht-und-Nebel-Aktionen teilzunehmen?
Statt nur für Gehaltserhöhungen zu demonstrieren, könnten
die Polizei und ihre Standesvertreter zeigen, dass sie nicht gewillt
sind, für jede Anweisung, die an den Schreibtischen ausgedacht
wird, die Erfüllungsgehilfen zu spielen. Michael Schmidt, Tübingen, Schwalbenweg 36 "Gegen die Menschenwürde" Am 17. Dezember wird eine Familie ohne Rücksicht auf ihre kleinen Kinder aus dem Schlaf gerissen und ins Flugzeug gesetzt und abgeschoben, obwohl diese Familie noch bis März 2003 Duldung hatte. Ist das nicht unmenschlich? Eine Regierung, die sich für die Demokratisierung in der Dritten Welt und Menschenrechte einsetzt, begeht dieses Verbrechen. Anscheinend ist so ein Vorgehen sogar legal. Wenn das so ist, dann ist es höchste Zeit, dass solche Gesetze geändert werden, und zwar zum Schutz hilfloser Menschen. Die Regierung sollte wissen, dass ein solches Verhalten nicht nur dem Ruf Deutschlands schadet, sondern ein Verstoß gegen die Menschenwürde ist. Gott verzeihe euch! Mohammad Ali Gharagozlou, Tübingen, Derendinger Straße 60 Weitere Texte zur Kusterdinger Weihnachtsabschiebung im Schwäbischen Tagblatt vom 30.12.2002 |